Radek Malý:
Die Traklsche Linie in der tschechischen Lyrik

(Diese Abhandlung erschien in: )

Tschechisches Original - Deutsche Übersetzung (von Radek Malý)

Der österreichische expressionistische Dichter Georg Trakl (1887–1914) hinterließ mit seinem lyrischen Werk eine ausdrucksstarke Spur in der Geschichte der modernen Weltliteratur. Sein bewegtes Schicksal, aber vor allem sein dichterisches Werk, umfasst in zwei schmalen Lyriksammlungen (Gedichte , 1913 und Sebastian im Traum , 1915) und in einem umfangreichen literarischen Nachlass, haben schon seine Zeitgenossen sowohl beunruhigt und als auch inspiriert; nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte aber das Interesse an Trakls Werk einen großen, bis heute anhaltenden Aufschwung.

Seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts übte Georg Trakl auch einen bedeutenden Einfluss auf die tschechische Lyrik aus – dank der frühen Übersetzungen seiner Lyrik ins Tschechische von Bohuslav Reynek (1917 und 1924) und später von Ludvík Kundera (1965 und 1995). Im Fall von Bohuslav Reynek handelt es sich um die weltweit erste Übersetzung von Trakl in eine Fremdsprache. Im Zentrum meiner Untersuchung steht die Frage, inwiefern sich Einflüsse bei den tschechischen Dichtern nachweisen lassen – wer, wann und auf welche Weise Trakls Werk in seinen Gedichten reflektierte.

Anfang der 30er Jahre erschienen Sammlungen von jungen tschechischen Dichtern, die auf die vorige literarische Epoche des Poetismus reagierten, die sich durch Sorglosigkeit und optimistische Weltsicht auszeichnete. Für diese Dichter – František Halas, Vilém Závada, Jan Zahradnícek, Vladimír Holan u.a. – waren die Motive des Herbstes, der Trauer und des Todes von gro ß er Wichtigkeit. Auf diese Dichter wirkte direkt oder indirekt (vermittelt durch die Übersetzungen von Bohuslav Reynek) Trakls Werk – es erscheinen ähnliche Motive des Untergangs, dieselbe geisterhafte Atmosphäre und manchmal sogar auch wörtliche Zitate.

 

Der Dichter, Übersetzer und Grafiker Bohuslav Reynek (1892–1971) begann – wie andere junge Lyriker seiner Generation auch – in der dekadent orientierten Zeitschrift Moderní revue (Moderne Revue) zu publizieren. Seine frühen Verse, die sich durch impressionistische, aber auch symbolistische Züge auszeichnen, erscheinen im Jahre 1914 auf denselben Seiten wie Gedichte von Jirí Karásek ze Lvovic oder Josef Hora. Aber sehr früh, schon im Jahre 1914, beginnt Reyneks Zusammenarbeit mit Josef Florian, einem Verleger aus Stará Ríše im Böhmisch-Mährischen Bergland. Florian konnte die vielseitigen Begabungen Reyneks für seinen Verlag bestens ausnutzen – Reynek profilierte sich in dem Verlag Dobré dílo (Gutes Werk) zuerst als Übersetzer, später auch als Lyriker und Graphiker. In diesem Verlag erscheinen auch Reyneks frühe, spirituell orientierte Sammlungen Žízne (Durste, 1921) und Smutek zeme (Trauer der Erde, 1924; die Daten der Erscheinung entsprechen nicht der Zeit der Entstehung der Sammlungen), in denen sich sein archaisch stilisierter Sprachstil entwickelt.

Aus dem Jahre 1916, als Reynek 24 Jahre alt war, datiert sich sein folgender Brief an A. L. Stríž, einen Mitarbeiter vom Verlag Dobré dílo :

 

Pan Florian má knížku básní G. Trakla, necetl jste? Tyto dny jsem je také dostal a preložím je. Mimo Francii a Hlavácka neznám básní krásnejších. Docela nove se dívá na veci, a cím dále ke konci knížky, tím hloubeji a šíre vidí. 1

 

Herr Florian hat ein Buch mit Gedichten von Georg Trakl, haben Sie es gelesen? Ich habe sie in diesen Tagen auch bekommen und ich habe vor, sie zu übersetzen. Au ß er Frankreich und Karel Hlavácek kenne ich keine schöneren Gedichte. Er schaut ganz neu die Sachen an, und je weiter zum Ende des Buches, desto tiefer und breiter sieht er.

 

Dieser Brief zeugt von der beginnenden, später langjährigen Faszination für Georg Trakl, die Bohuslav Reynek erfasste. Die Übersetzung der ersten Sammlung Trakls Gedichte erschien im Verlag Dobré dílo unter dem Titel Básne Jirího Trakla schon im Jahre 1917 und die Übersetzung von der zweiten Sammlung Trakls Sebastian im Traum folgte sieben Jahre später, im Jahre 1924, unter dem Titel Šebastian v snu . Reynek hat so gewisserma ß en die Voraussetzung für die Auseinandersetzung mit Trakls Werk für viele tschechische Dichter der Zwischenkriegsgeneration und manche spätere Autoren geschaffen.

Bohuslav Reynek entdeckte in Georg Trakl eine verwandte Seele; eine Lyrik, die mit seiner eigenen lyrischen Wahrnehmung im harmonischen Einklang resonierte. Trakls dunkle, melancholische Lyrik, für die Reynek, der Übersetzer, im Raum der tschechischen Sprache einen eigenartigen dichterischen Ausdruck schuf, zeigte Reynek, dem Lyriker und Grafiker, einen Weg zum Expressionismus. Primäre Ausgangspunkte dieser künstlerischen Bewegung wie Gefühle der Vergeblichkeit und Entfremdung und das Suchen nach disharmonischen Motiven und Ausdrucksmitteln, nahm Bohuslav Reynek in dieser Etappe seines Werkes als eigene an und seine drei Sammlungen aus den 20er Jahren stellen heute eine der authentischsten, wenn auch in seiner Zeit periphere Form des tschechischen lyrischen Expressionismus dar.

Zudem war Trakl nicht der einzige expressionistische Dichter, für den sich Reynek interessierte – er übersetzte auch u.a. Georg Heym, René Schickele, Kasimir Edschmidt, Theodor Däubler oder Else Lasker-Schüler. Es handelte sich wieder um die weltweit ersten Übersetzungen dieser Autoren und sie zeugen von einem prophetischen Geist, der den Verlag Dobré dílo umhüllt hat. Georg Trakl allerdings nimmt für Reynek stets eine außergewöhnliche Stellung ein – ähnlich wie Trakl – obgleich Österreicher – herausragende Position im deutschen Expressionismus besetzt. Reynek – ähnlich wie Trakl – hasste die Stadt und floh in die scheinbare Idylle der Natur auf dem Lande; daneben waren beide stark gläubig. Der eine protestantisch im katholischen Salzburg (Trakl), der andere gut katholisch in der tschechischen Provinz (Reynek).

Aber es gibt noch eine andere, wichtigere Gemeinsamkeit auf der Ebene der Topoi: dazu zählt z.B. die starre Atmosphäre von leeren dörflichen Häusern, einsame Spaziergänge in der Herbstlandschaft, das „Zwischenreich“ Garten. Bei Trakl und ebenso bei Reynek findet man dieselbe Farbskala, die sich über Blau (v.a. bei Trakl), warme herbstliche Töne bis zum Schwarz, der Farbe des Verfalles, erstreckt. Wenn diese Dichter über die grüne Farbe schreiben, handelt es sich nicht etwa um das zarte, milde Grün des Frühlings, sondern eher um die giftige, agressive und kranke Farbe des Schimmels. Auch wenn also diese Dichter über den Frühling schreiben, wird dieser aus der Perspektive des Herbstes gesehen wie in Halas´ Podzim na jare (Herbst im Frühling). Nicht zufällig nennt man seitdem in der tschechischen Lyrik bspw. František Halas oder Zbynek Hejda „Dichter des Herbstes“.

Zahlreiche Gedichte Reyneks aus den 20er Jahren heissen ähnlich oder sogar identisch wie bei Trakl – bei Reynek: Zimní vecer (Ein Winterabend), Zánik (Untergang), Procházka na podzim (Spaziergang im Herbst), Tri písne o srdci (Drei Lieder über das Herz) , U rybníka (Am Teich), Jitro v zime (Morgen im Winter), Soumrak (Dämmerung) und bei Trakl: Winterdämmerung , Im Herbst , Zu Abend mein Herz , Im Winter , Der Spaziergang, Dämmerung , Verfall , Ein Herbstabend, Untergang u.a. Man findet Parallelen auf der thematischen und motivischen Ebene, weniger dann auf der Ebene des Wortes, des Zitats (wie es bei anderen tschechischen Lyrikern der Fall ist). Reyneks Lyrik korrespondiert mit der Traklschen v.a. in der tragischen Weltsicht. Verfall und Untergang – für die Expressionisten die üblichsten Requisiten – sind bei Trakl und Reynek keine Requisiten mehr. Wie schon Vojtech Jirát in seiner Studie aus dem Jahre 1943 nachgewiesen hat 2 , handelt es sich bei Trakl nicht um den Ausdruck eines tragischen Lebensgefühls, sondern um das authentische Erlebnis eines solchen Gefühls, um das „Erlebnis der Dekadenz“. Tragische Imagination durchtränkt bei Trakl und Reynek jeden Winkel der Lyrik; alle Elemente, auch die traditionell schönsten wie Liebe, Frühling, Engel werden mit der Optik des Verfalls und des fatalen Bewusstseins des Todes gesehen.

Unter dem Eindruck dieser „tragischen Weltsicht“ entstehen drei Sammlungen Reyneks, die man heute mit Recht für den Höhepunkt des tschechischen Expressionismus hält – zwei Sammlungen von lyrischen Prosen Rybí šupiny (Fischschuppen, 1922) und Had na snehu (Schlange auf dem Schnee, 1924) und eine lyrische Sammlung Rty a zuby (Lippen und Zähne, 1925). Sie entstanden in der Zeit des Ersten Weltkrieges, die für Reynek und ebenso für Trakl ein reales Bild der Hölle auf Erden darstellte und die einen sensitiven Geist zu immer grausameren Metaphern zwang. Gefühle der ängstlichen Beklemmung und des Grauens führen bis zu einem Ausdruckskrampf, der auch für den Expressionismus typisch ist.

Als ein konkretes Beispiel der Verwandtschaft beider Dichter zitiere ich zuerst die dritte Strophe aus Trakls Gedicht Winterdämmerung :

 

Kirchen, Brücken und Spital
Grauenvoll im Zwielicht stehen.
Blutbefleckte Linnen blähen
Segel sich auf dem Kanal. 3

Diese Strophe in Reyneks Übersetzung:

 

Chrámy, mosty, nemocnice

v šerosvitu mají hruzy líce.

mnohé prosteradlo krví poskvrnené,

plachtou na pruplavu vítr žene. 4

 

Durch eine ähnliche Wortwahl und Farbigkeit zeichnet sich Reyneks Gedicht Vecer (Abend) aus:

 

More… Nemocnice siná,

v které údu bel se vzpíná

nad zterelá prosteradla. 5

...

 

ein Meer… Ein graues Spital,

in dem sich ein Wei ß der Beine

über verfallene Linnen erstreckt.

...

 

Von den Bildern, die Reynek von Trakl direkt übernommen hat, möchte ich hier stellvertretend die Verbindung „der schwarze Tau“ nennen, eine Art absoluter Metapher, die in der deutschgeschriebenen Lyrik eine starke Tradition hat (au ß er bei Trakl auch bei Rose Ausländer, Paul Celan u.a.). Bei Reynek findet man diese Metapher im Gedicht Nespavost (Schlaflosigkeit) aus der Sammlung Odlet vlaštovek (Abflug der Schwalben) aus den 60er Jahren; bei Trakl erscheint dieses Bild im Gedicht An den Knaben Elis (in seinen beiden Sammlungen enthalten) und Der Herbst des Einsamen aus der Sammlung Sebastian im Traum .

Reyneks Gedichte aus dieser Zeit wirken am überzeugendsten nicht dort, wo sie sich mit Trakls Metaphorik tragen lassen, sondern dort, wo Trakls Lyrik nur ein Impuls für Reyneks eigene lyrische Imagination war – und hier entdeckt sich eine Quelle, die in der tschechischen Lyrik zwar immer da war, aber nie eine gro ß e Rolle spielte. Denn vorwiegend beherrscht bis heute ein fröhlicher Optimismus die tschechische Lyrik, der sogenannte „latente Imperativ von einem Bel Canto“ (ein Begriff von Miloslav Topinka). 6

 

Man könnte darüber spekulieren, welche Bedeutung Reyneks Trakl Übersetzungen gehabt hätten, wenn diese nicht so intensiv auf den jungen Lyriker František Halas (1901–1949) gewirkt hätten. Zweifelsfrei spielte gerade Halas´ Popularisierung von Trakls Werk unter seinen Kollegen aus Prag und Brünn eine grundsätzliche Rolle in der Entwicklung der tschechischen Zwischenkriegslyrik. Es handelt sich dabei um die frühe Periode in Halas´ Werk, von den Juvenilien über die Sammlung Sépie (Sepie, 1927) und Kohout plaší smrt (Der Hahn scheucht den Tod, 1930) bis zur Sammlung Dokorán (Angelweit, 1936).

Über Trakls Einfluss auf das frühe Werk von František Halas gibt es schon Fachliteratur (z.B. von Ludvík Kundera, Jaroslav Med oder Karel Milota). 7 Meine Aufgabe ist es daher nicht, diese Beziehung zu beweisen, sondern vielmehr sie zu beschreiben und an konkreten Beispielen zu demonstrieren. Es wird nicht einfach sein, weil Halas sich mit Trakl durch Reyneks Übersetzungen bekannt gemacht hat, in denen sich im großen Maß Reyneks dichterische Sprache und seine Weltsicht äußern – in Halas´ frühen Gedichten begegnen sich so drei verschiedene, aber verwandte lyrische Ausdrucksweisen – die von Trakl, die von Reynek und die von Halas.

Als erster bemerkte diese Beziehung schon im Jahre 1930 der wichtigste tschechische Lyriker seiner Zeit Vítezslav Nezval, der selbst ein Vertreter vom Poetismus war. Kein Wunder, dass seine Kritik an Halas´ zweiter Sammlung Kohout plaší smrt , in der Halas absichtlich mit Kakofonien und Motiven des Todes arbeitet, abwertend war:

 

„Halasovy verše pusobí jako mizerný preklad poezie snad dobré, ale pokažené nesvedomitým a neschopným prekladatelem hodne starého data… O Halasových traklovštinách (zvlášt v ryze popisných básních) a umrlcinách nechci ztrácet slov, ackoliv jsou ohavné.“ 8

 

„Halas´ Gedichte wirken wie eine miserable Übersetzung einer Lyrik, die vielleicht gut ist, aber die durch eine gewissenlose veraltete Übersetzung eines unfähigen Übersetzers verdorben ist… Über die Trakl-Deformationen und Todesanbetungen (vor allem in rein beschreibenden Gedichten) will ich nicht Worte verlieren, auch wenn die hässlich sind.“

 

In diesen Sätzen spielt Nezval auf Reyneks dichterische Sprache an, die tatsächlich veraltet wirkt und die Halas für seine Gedichte im gewissen Sinne auch akzeptiert hat. Um dieses beschreiben zu können, muss man tiefer in die dichteriche Vergangenheit von František Halas tauchen, in seine Juvenilien.

In der vierten Strophe in Halas´ frühem Gedicht Melancholie aus dem Jahre 1924 findet man eine ungewöhnliche Wortverbindung – „oblé oci“ („rundliche Augen“): vy oblé oci nemohu pro vás spát (ihr rundliche Augen wegen euch kann ich nicht schlafen). Dieses Epiteton hat seine Wurzeln bei Trakl bzw. bei Reynek, der Trakls häufige und fast zum Kanon gewordene Wortverbindung „runde Augen“ (z.B. in den Gedichten Abendlied , Helian , Stundenlied , Elis , An einen Frühgestorbenen , Winternacht oder Traum und Umnachtung ) nicht richtig als „kulaté oci“ („runde Augen“), aber bedeutungsverschoben als „oblé oci“ („rundliche Augen“) übersetzt.

In diesem Gedicht findet man auch weitere mögliche Anspielungen an Trakl, z.B. der Vers Zapomenutou legendu v tichu úst ríkám (eine vergessene Legende in der Stille des Mundes sage ich) weist zu Trakls Vers Leise sagend die vergessene Legende des Walds aus dem Gedicht Am Mönchsberg , von Reynek als potichu ríkající zapomenutou legendu lesa übersetzt.

Einen anderen Beweis bringt das Gedicht Ve zlatém hvozdu modrý pták (Im goldenen Wald ein blauer Vogel) aus Halas´ Nachlaß, enstanden im Jahre 1929 (Ausschnitte):

 

Ve zlatém hvozdu modrý pták krvácí

chlapec tají dech a klopýtá o své slzy

Malý zpevácek vypadlý z hnízda hvezd

...

Tehda jeho spravedlivé dny jsou naplneny

a chlapec promenen v krystal

stává se trunem lásky

 

Jeho neha zní strachem kolouchu a pláce

na nebevzetí jejích nader se usmívá

a ríká jí jménem pri nemž mlknou ptáci 9

...

 

Im goldenen Wald ein blauer Vogel blutet

ein Knabe hält den Atem an und stolpert über seine Tränen

Ein kleiner Sänger ausgefallen aus dem Nest der Sterne

...

Bisweilen seine gerechten Tage erfüllt sind

und der Knabe ins Kristall umgewandelt

wird zum Thron der Liebe

 

Seine Zärtlichkeit tönt mit Angst von Hirschkälber und Weinen

die Himmelfahrt ihrer Brüste lächelt

und nennt sie mit einem Namen bei dem die Vögel schweigen

 

Zum Vergleich zitiere ich einige Verse aus Trakls Gedichten An den Knaben Elis und Elis :

 

An den Knaben Elis

 

Elis, wenn die Amsel im schwarzen Wald ruft,
Dieses ist dein Untergang.
Deine Lippen trinken die Kühle des blauen Felsenquells.

 

Laß, wenn deine Stirne leise blutet
Uralte Legenden
Und dunkle Deutung des Vogelflugs.

...

Eine schwarze Höhle ist unser Schweigen,

Daraus bisweilen ein sanftes Tier tritt
Und langsam die schweren Lider senkt.
Auf deine Schläfen tropft schwarzer Tau,

 

Das letzte Gold verfallener Sterne. 10

 

Elis

...

O! wie gerecht sind, Elis, alle deine Tage.

...

Ein blaues Wild
Blutet leise im Dornengestrüpp.

...

Zeichen und Sterne
Versinken leise im Abendweiher.

...

Blaue Tauben
Trinken nachts den eisigen Schweiß,
Der von Elis' kristallener Stirne rinnt. 11

 

In allen drei zitierten Versen findet man Ausdrücke nicht nur aus denselben semantischen Feldern und nicht nur auf einer allgemeinen Ebene, sondern auch ganz konkrete Beispiele von raffinierten Übernahmen, die in einen anderen Kontext gestellt werden. So z.B. im Bereich der Wortverbindungen (gerechte Tage), Substantive (Wald, Vogel, Knabe, Kristall, Sterne), Adjektive (blau, gold) und auch Verben (schweigen, bluten). Dieses spielt sich aber nicht mehr auf der Ebene eines Zitates ab; die Übernahmen sind bewusst und sinnvoll interpretiert, hinein komponiert und umgewandelt in ein neues Gedicht (vielleicht eine bewusste Variation auf Trakls Elis -Gedichte). Dieses zeichnet sich durch eine klar Traklsche Diktion aus, und das sogar auf der formalen Ebene (ungereimte dreiversige Strophen mit verschieden langen Versen).

Diese Arbeitsweise wird dann für František Halas typisch – in seinen Sammlungen Sépie und Kohout plaší smrt finde ich eine ganze Reihe von Verweisen auf Trakl, bzw. auf Reyneks Interpretation von Trakl – und zwar auf vielen Ebenen: von der lexikalen Seite der Wortwahl über Satzbau und Sprachstil bis zur Strophenform des Gedichtes. Als Beispiel von Trakls Metaphern, die Halas in seiner Sammlung Kohout plaší smrt übernimmt und weiter bearbeitet, kann man z.B. ein dichterisches Bild des Engelhaften nennen, das bei Trakl einmal als „ eines Engels blaue Mohnaugen“ erscheint – bei Halas findet man einen Mohnengel; ein anderes Mal liest man bei Trakl über „ Engel mit kotgefleckten Flügeln“, bei Halas dann über einen „Engel des Herzen, der hinkt, ziehend hinter sich einen schmutzigen Flügel“.

Was aber Halas vor allem mit Trakl verbindet, ist – ähnlich wie bei Reynek – eine durchaus tragische Weltsicht. Diese bleibt auch später in seinem Werk sichtbar; in den Sammlungen aus der 2. Hälfte der 30er Jahre allerdings verschwinden die letzten Spuren von Trakls Einfluss. Dieses, also Mitteilen von einer tragischen Weltansicht, kann man dagegen nicht bei allen weiteren Dichtern beobachten, die noch erwähnt werden – an Halas ist gerade diese Authentizität hoch zu schätzen.

Auch wenn man in Halas´ früher Schaffensperiode mehrere Zitate von Trakl findet, ist das kein Grund, sie deswegen für „weniger originell“ oder „abgeschrieben“ zu halten. Die Intensität von Halas´ lyrischen Erlebnissen und seine Arbeitsweise zeigen das Bild eines modernen Dichters, der gerade mit Hilfe von Zitaten auf eine kreative Weise eine neue, wirksame lyrische Welt schafft. Übrigens: ist es nicht gerade Trakl, bei dem man Zitate von Jean Arthur Rimbaud findet, ist es nicht z.B. Paul Celan, bei dem man Zitate und Anspielungen auf Trakl findet?

 

Noch mindestens drei Namen muss man erwähnen, wenn man über Trakls Spuren in der tschechischen Lyrik der 30er Jahre spricht: Vilém Závada, Jan Zahradnícek und František Hrubín. Keiner von ihnen ist dem Expressionismus so nah wie Halas gekommen, aber alle gehörten zu Halas´ nahen Freunden und es ist wahrscheinlich, dass dieser sie mit Trakls Werk bekannt gemacht hat.

Nur bei Vilém Závada (1905–1982) spürt man ein ähnlich intensives expressionistisches Erlebnis der Wirklichkeit wie bei Halas und Reynek, trotzdem wurden seine Sammlungen aus den 30er Jahren nicht so berühmt. Es gibt einen grundsätzlichen Unterschied zwischen der Expressivität von Trakl, Reynek oder Halas und der Expressivität von Vilém Závada – bei den drei Erstgenannten richtet sich das tragische Erleben ins Innere und wird am Ende in einem hermetisch geschlossenen Raum verarbeitet, von dem der Leser nur einen Teil ahnen kann; bei Závada handelt es sich um eine nach Außen gerichtete Geste, deren appellativer Ton vielleicht auch mit Závadas nach links orientierter politischen Überzeugung zusammenhing.

Heute nimmt man seine und Halas´ Abweichung vom Poetismus zur dunklen Lyrik mit Motiven vom Herbst, Tod und Verfall als beabsichtigt wahr, was allerdings damals nicht so eindeutig war. In den Selbstzeugnissen und Juvenilien liest man, dass jeder von diesen Dichtern mit sich selbst einen inneren Kampf auskämpfen musste, und sogar dass jeder von ihnen eine „poetistische Vergangenheit“ hinter sich hat. Die erste Veröffentlichung von Závada war dagegen rein „antipoetistisch“ – es handelt sich um die Sammlung Panychida (Trauerfeier) aus dem Jahre 1927. Noch in zwei weiteren Sammlungen findet man einen ähnlich exaltierten Ausdruck, den man zweifellos als expressionistisch bezeichnen kann – in der Sammlung Siréna (Sirene, 1932) und Hradní vež (Burgturm, 1940).

Vilém Závadas Expressionismus ist dem Traklschen in mehreren Punkten ähnlich – außer der konkreten Zitatebene (dieselben Titel, aber auch konkrete Wortverbindungen, wie z.B. das für die tschechische Lyrik ungewöhnliche Wort „Resedenduft“) finden sich ähnliche formale Fortgänge (Alliterationen) bishin zu identischen Motiven. Vor allem zwei Motive, die bei Trakl und ebenso bei Závada systematisch erscheinen, und die nicht für den deutschen Expressionismus typisch waren (vielmehr für den Symbolismus), soll man nicht vergessen: eine Überschneidung der Vorstellung von Erotik und Tod sowie das bereits erwähnte Motiv des Herbstes im Frühling. In beiden Fällen handelt es sich um eine Kontamination von Motiven, die gegeneinander stehen, und beide haben ihre Wurzeln in der durchaus tragischen Weltsicht – jedes potentiell positive Element wird gleich verneint durch die drohende permanente Gegenwart des Verfalls.

Mit dem Namen Jan Zahradnícek (1905–1960) verbindet man heute mit Recht eine herausragende tschechische, katholisch-spirituelle Lyrik. Zahradnícek findet aber seinen eigenen dichterische Ausdruck erst in seiner dritten Sammlung Jeráby (Die Ebereschen, 1933); davor muss man seine Lyrik als Nachahmung von Halas´ und Závadas (deswegen natürlich auch von Trakls) Gedichten betrachten. Zahradnícek war mit Trakls Werk gut bekannt – er selbst hat sogar zwei Gedichte Trakls übersetzt. Seine erste Sammlung Pokušení smrti (Versuchung des Todes, 1930) verrät diese Bekanntschaft so sehr, dass man in diesem Zusammenhang vor allem den Zeitgeist, die Stimmung, die damals in der tschechischen Lyrik vorherrschte, sehr gut erkennen kann. Seine frühe Lyrik zeigt also auch die Grenzen von Trakls Einfluss auf die tschechische Lyrik – ohne ein authentisches Gefühl führt eine solche Nachahmung zum mechanischen Reihen von trostlosen Bildern des Verderbens, der Trauer und des Selbstbedauerns.

Zahradníceks Lyrik wird so zu einem Konglomerat aus Zitaten und formalen Zügen von anderen Lyrikern, von Trakl über Reynek bis zu Halas. Als kurzes Beispiel möchte ich auf zwei Strophen aus seinem Gedicht Proc (Warum) hinweisen:

 

Hore rozumu prikrývaje se stíny si šeptám

Podobny do jiného sveta otevreným dverím

sladké rány kvílejíce purpurove zejí

Vystaven úpenlivým pruvanum prekrásne horím

 

Ale proc zrána úmyslne oci rozbíjím si?

Proc v popelavém úsvite tolik se podobám své smrti?

Proc nechci se dát nicím utešiti

a nejvíc miluji to co mne sklicuje a drtí? 12

...

 

Das Leid der Vernunft flüstere ich mir mich mit Schatten zudeckend

die einer geöffneten Tür in eine andere Welt ähnlich sind

sü ß e Wunden purpurn klaffend schreien

Den wehklagenden Luftzügen ausgestellt brenne ich wunderschön

 

Aber warum zerbreche ich mir die Augen morgens absichtlich?

Warum in der aschernen Dämmerung ich meinem Tod so ähnlich bin?

Warum will ich mich nicht trösten lassen

und am meisten liebe ich das, was mich beängstigt und zermürbt?

 

Diese Phase seines Schaffes überwindet Zahradnícek schon in der zweiten Sammlung Návrat (Rückkehr, 1931) und findet dann zu seiner spirituellen Ausdrucksweise, die man heute mit ihm verbindet.

Der Einfluss von Trakls Poetik war so stark, dass man ihn auch in der Lyrik von František Hrubín (1910–1971) beobachten kann, auch wenn dieser Lyriker nie zum Expressionismus, sondern zur spirituellen Lyrik gereiht wird. An seinem Beispiel sehen wir, dass Reyneks Übersetzung von Trakl in der tschechischen Lyrik zu einer fast selbstverständlichen Inspirationsquelle wurde.

Im ersten Gedicht seiner ersten Lyriksammlung Zpíváno z dálky (Von Weitem gesungen, 1933) liest man nähmlich Verse wie Jako chorá vec se leskne/ luna v potocích (Wie ein krankes Ding glänzt/ die Luna in Bächen). Die Wortverbindung „chorá vec“, also „ein krankes Ding“ findet man in Reyneks kreativer Übersetzung von Trakl, konkret im Gedicht Am Mönchsberg / U Mnišské hory ; aber bei Trakl heisst es nicht „ein krankes Ding“, sondern nur „ein Krankes“. Solche Substantivierungen findet man bei Trakl häufig (ein Dunkles, ein Vergessenes...) und man kann diese ins Tschechische nur mit Hilfe einer Umschreibung übersetzen. Ein solcher, eher experimenteller Versuch von Bohuslav Reynek inspirierte zehn Jahre später den jungen František Hrubín zu einer wörtlichen Übernahme davon. Von Hrubíns Interesse für Trakl zeugt auch das spätere Gedicht Ctenár u reky – nad básnemi Georga Trakla (Leser am Fluss – über Gedichte von Georg Trakl) aus dem Jahre 1938, wo Trakl direkt im Titel erwähnt wird.

 

In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts kann man in der tschechischen Lyrik eine zweite Welle des Interesses an Trakls Werk beobachten. Diese war zwar nicht so ausgeprägt wie jene in den 30er Jahren, aber interessanterweise hängt diese neue Hinwendung wieder mit Übersetzungen zusammen. Im Jahre 1965 erscheint unter dem Titel Básne (Gedichte) eine gro ß e Auswahl aus Trakls Werk in der Übersetzung von Ludvík Kundera. Ludvík Kundera, selbst auch ein Lyriker, befasste sich mit Trakl mehrere Jahre und seine Übersetzungen erschienen dann in einer aktualisierten Version noch im Jahre 1995.

Seit den 60er Jahren wirkte Trakl vor allem auf einen Lyriker, den man heute zu den bedeutungsvollsten der tschechischen Nachkriegslyrik zählt – auf Zbynek Hejda.

Bei Zbynek Hejda (geb. 1930) ist dieser Einfluss unbestreitbar und auch in der Sekundärliteratur nachgewiesen – zumal Hejda etliche Gedichte Trakls selbst übersetzte und publizierte. Hejdas eigene Lyrik enthält dann solche Töne, die man schon von Georg Trakl oder František Halas her kennt – es ist die dunkle, trostlose Lyrik einer grauenhaften Schönheit, deren Hauptthema ein einziges ist: der Tod. Bei Hejda findet man indes keine Traklschen Zitate oder Wortübernahmen – sicher auch deshalb nicht, weil er Georg Trakls Lyrik mit einem Zeitabstand wahrnehmen und entsprechende Distanz halten konnte und sicher auch schlicht deshalb, weil er selbst ein gro ß er Lyriker ist. Hejda bleibt auf seinem eigenen Weg. Vielleicht fand er in Trakl eher einen Dichter-Bruder als einen Lehrer.

Als Beispiel möchte ich das kurze Gedicht Pred okny rudne listí vína (Vor den Fenstern werden Weinblätter rot) aus der Sammlung Lady Felthamová ( Lady Feltham, 1992 ) anführen :

 

Pred okny rudne listí vína.

Plot kolem zahrady se rozpadá.

Strechy stájí se propadly,

rozpadá se zed dvora.

Roubení studny sesuté.

Vzrostly kaštany na dvore,

ty vzrostly! 13

 

Vor den Fenstern werden Weinblätter rot.

Der Zaun um den Garten zerfällt.

Die Dächer der Ställe sind verfallen,

zerfällt die Hofmauer.

Raumstein um den Brunnen zusammengefallen.

Die Kastanien im Hof sind gewachsen,

die sind gewachsen!

 

In diesem Gedicht erkennt der Trakl-Kenner einiges wieder: rotes Laub, verfallende öde Häuser, Brunnen und dunkle Kastanien – Bilder, die Trakl in seinen frühen, in Salzburg entstandenen Gedichten so suggestiv schildert. Trotzdem kann man nicht ohne Weiteres unterstellen, dass dieses Gedicht von Trakl inspiriert ist. Es geht eher um ein konkretes Haus, um eine konkrete Szene, wie sie sich auf dem tschechischen Lande abspielen könnte – eben aus einer Landschaft, die der Traklschen so sehr ähnelt.

 

Es stellt sich nun die auf der Hand liegende Frage, ob Trakls „Poetik der unerklärbaren Melancholie“ in der aktuellen tschechischen Lyrik noch von Bedeutung ist oder ob es sich um ein abgeschlossenes Kapitel handelt. Im Gegenteil muss man wohl konstatieren: Trakls Werk wird sowohl als Forschungsgegenstand bearbeitet und immer wieder neu interpretiert (es entstehen aktualisierte Übersetzungen, Diplomarbeiten, literarische Texte über Trakl) als auch literarisch reflektiert – so z.B. von zeitgenössischen Lyrikern wie Radek Fridrich, Bohdan Chlíbec, Jan Dadák, Jirí Stanek, Alena Nádvorníková oder Viky Shock. Eine besondere Stellung hat ausserdem das Drama „Trakl“ (aus dem Jahr 1998, als Hörspiel im Jahr 2002 realisiert) von dem jungen Dramatiker Marek Horošcák.

Die „Traklsche Linie“ zieht sich bis heute durch die tschechische Lyrik und scheint nicht abzureissen.

 

Anmerkungsapparat:

  1. MED, Jaroslav. Od snu o ráji k prožitku apokalypsy . In: Bohuslav Reynek (1892–1971). Výstava ke 100. výrocí narození . Brno 1992, S. 32
  2. JIRÁT, Vojtech. Dva predchudci: Georg Trakl a Georg Heym . Kritický mesícník, N. 5/1943, S. 147–153

•  TRAKL, Georg. Das dichterische Werk . München 1998, S. 14

•  TRAKL, Georg. Básne Jirího Trakla . Übersetzt von Bohuslav Reynek. Stará Ríše 1917, S. 16

•  REYNEK, Bohuslav. Básnické spisy . Aus der Sammlung Rty a zuby . Zlín 1995, S. 295

•  TOPINKA, Miloslav. Ceské bel canto. Sešity pro mladou literaturu 2, 1967, N. 9, S. 154–155

•  MED, Jaroslav. Reynkuv odlet vlaštovek . Akord – revue pro literaturu, umení a život. 1990/91, 9

MILOTA, Karel. Šebestián proklátý a proklatý. Literární noviny 31/1997, S. 6–7

•  HALAS, František. Krásné neštestí . Einleitung von Ludvík Kundera. Praha 1968, S. 41–42

  1. Aus einem Brief an Libuše Rejlová 21. 5. 1929. Host do domu , N. 10, Jhg. 1967, S. 43
  2. TRAKL, Georg. Das dichterische Werk . München 1998, S. 17
  3. TRAKL, Georg. Das dichterische Werk . München 1998, S. 50
  4. ZAHRADNÍCEK, Jan. Básnické dílo I . Aus der Sammlung Pokušení smrti . Praha 1991, S. 24
  5. HEJDA, Zbynek. Básne . Aus der Sammlung Lady Felthamová . Praha 1996, S. 197

 

Literatur

Primärtexte

TRAKL, Georg. Historisch-kritische Gesamtausgabe in zwei Bänden. Hg. von Walther Killy und Hans Szklenar . Salzburg: Otto Müller Verlag 1987

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TRAKL, Georg. Šebastian v snu . Übersetzt von Bohuslav Reynek. Vyškov: Obzina 1924

TRAKL, Georg. Básne . Übersetzt von Bohuslav Reynek. Náchod: Pavel Maur 1995

TRAKL, Georg. Básne . Übersetzt von Ludvík Kundera. Praha: SNKLU 1965

TRAKL, Georg. Šebestián ve snu . Übersetzt von Ludvík Kundera. Trebíc: Arca JiMfa 1995

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Sekundärliteratur

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Veröffentlichungen in Zeitschriften

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Korrespondenzen

BREZINA, Otokar. Korespondence II (1909-1929). Brno: Host 2004

HALAS, František. Dopisy. Praha: Torst 2001

Není dálky. Vzájemná korespondence Františka Halase a Jana Zahradnícka z let 1930–1949 . Praha-Litomyšl: Paseka 2003