Rolf Schneider
Das süße Gift vom Weißen
Schwan
Heikle Beziehung zur Schwester: Georg und Grete
Trakl
Februar 1887. Dem Salzburger Eisenhändler Tobias
Trakl und seiner Frau Maria wird als viertes Kind ein Sohn geboren: Georg.
Fünf Jahre später kommt als sechstes und letztes Geschwister
ein Mädchen zur Welt, Margarethe, genannt Grete. Bruder Georg beginnt
im gleichen Jahr mit dem Schulbesuch, der sich für ihn zu einer Abfolge
von Mißerfolgserlebnissen gestalten wird.
Salzburg ist zu jener Zeit nicht viel mehr ein vor sich hin dösendes
Provinznest, bewohnt von Beamten, Kaufleuten und Militärs. Alles
Leben verläuft behäbig, kleinstädtisch-borniert. Die Luft
ist erfüllt von Fäulnis und Trauer.
Die Trakls sind wohlhabende Leute, das Eisenwarengeschäft floriert.
Der Hausherr ist eine fröhlich lärmende Natur, die Mutter eine
kunstsinnige Neurotikerin.
Der junge Georg Trakl besucht ein katholisches Erziehungsinstitut, außerdem
die evangelische Christenlehre. Daheim hat er eine Bonne, die aus dem
Elsaß stammt und ihn gleichermaßen mit der französischen
Sprache und einem gewissermaßen hysterischen Katholizismus versorgt.
Das erste Jahr des neuen Jahrhunderts bringt eine schwere Demütigung:
Georg Trakl wird in der Schule nicht versetzt und muß die Klasse
wiederholen. Er schreibt Gedichte. Er sondert sich ab, immer mehr, er
irritiert seine Mitwelt durch Äußerungen seiner Lethargie.
Er liest Fjodor Dostojewski und Friedrich Nietzsche. Er raucht. Er trinkt
Unmengen Wein. Heimlich experimentiert er mit Rauschgiften, Chloroform
und Äther. Er wird Stammgast in den beiden örtlichen Freudenhäusern.
Das wäre ein ausreichender Grund, ihn umgehend des Gymnasiums zu
verweisen, das er besucht, aber da liegt noch viel näher seine anhaltende
und offensichtliche Leistungschwäche. 1905 verläßt er
die Schule und beginnt eine Lehre als Apotheker.
Der soziale Absturz, den das bedeutet, ist erheblich, wiewohl nicht bodenlos.
Irgendwie läßt er sich sogar literarisch begründen. Waren
nicht auch Fontane und Ibsen Pharmazeutenzöglinge gewesen? Vor allem
bietet der Keller der Apotheke «Zum Weißen Engel», gelegen
auf dem anderen Salzachufer, wo sich Schloß Mirabell befindet, ein
reiches, problemlos verfügbares Sortiment von Bewußtseinsdrogen.
Die fünf Jahre jüngere Grete ist sein Lieblingsgeschwister.
Sie wird als eine kraftvolle, jähe, sinnliche Person beschrieben,
nicht eben hübsch, aber das ist Georg ebenso wenig, dem sie im übrigen
sehr ähnlich ist, im Äußeren wie im Wesen. Als elfjähriges
Kind gibt man sie nach Niederösterreich, in ein Internat der Englischen
Fräulein, später noch in ein katholisches Erziehungsheim, nach
Wien. Die frommen Prüderien, die man in solchen Instituten lehrte,
scheinen sie eher herausgefordert zu haben.
Sie ist künstlerisch hochsensibel, wie Georg, und sie ist hemmungslos
wie er. Derart tragen sie beide, so wird es Georg irgendwann notieren,
«zerbrochene Schwerter im Herzen». Die erste Entdeckung, die
sie sich machen, ist ein sie beide solidarisierendes Gefühl des Andersseins,
und womöglich wird einer der Antriebe ihres gesamten späteren
Verhaltens die trotzige Absicht, sich eben dies zu bestätigen.
Georg Trakl bringt der Schwester den Umgang mit Narkotika bei, und Grete
verfällt dem süßen Gift bald noch viel radikaler als Georg,
wie sie sich auch in ihren übrigen Taten energischer und bedenkenloser
als der Bruder zeigt. Sie beginnt eine Affaire mit einem der intimsten
Freunde Georgs. Sie wird es auch später mit der sexuellen Treue nicht
sehr genau nehmen. Die Reaktion bei Georg sind wütende Eifersuchtsphantasien.
1908 schließt er sein praktische Apothekerausbildung ab und geht
nach Wien. Er soll Pharmazie studieren. Die große Stadt peinigt
ihn, er fühlt sich allein und elend, er betäubt seine Empfindungen
wie gewohnt mit Gift. Das Jahr darauf, 1909, wird seine Schwester Schülerin
an der Wiener Musikakademie.
Er hat sie also wieder um sich, die «Fremdlingin» und «Jünglingin»,
das «schönste Mädchen», die «größte
Künstlerin» und das «seltenste Weib». Er sieht
sich zurückgeworfen und eingesperrt in den gewohnten, immergleichen
Kreislauf aus Begierde, Rausch, Ernüchterung und vergeblicher Reue.
Seine Abhängigkeit vom Rauschgift wird stärker. In den Versen
häufen sich die Bilder der Verzeiflung, und immer öfter schreibt
er vom Tod.
1910 stirbt Tobias Trakl, der Vater. Es erweist sich, daß die wirtschaftliche
Situation der Familie längst nicht so gesichert ist, wie man bis
dahin annehmen durfte. Der Wohlstand war bloß simuliert. Niedergang
und Auflösung allenthalben.
Die Schwester geht von Wien nach Berlin, um dort ihre Klavierstudien fortzusetzen,
bei Ernst von Dohnányi, immerhin. Bei Georg Trakl wechseln auf
Verzweiflung und Rausch Perioden einer wilden Aktivität. Er besteht,
mit leidlichem Ergebnis, seine Examina als Magister der Pharmazie.
«Es dräut die Nacht am Lager unsrer Küsse. / Es flüstert
wo: Wer nimmt von euch die Schuld? / Noch bebend von verruchter Wollust
Süße / Wir beten: Verzeih uns, Maria, in deiner Huld.»
Dies ist die erste Strophe eines Trakl-Gedichtes mit dem eindeutigen Titel
«Blutschuld». Es scheint so, als ob er sich jetzt bloß
noch als einen Verworfenen begreift, tief verwoben in Gefühle der
Sünde.
In Innsbruck erscheint eine kulturelle Zeitschrift des Titels «Der
Brenner», ein gescheites, in manchem widerspenstiges Blatt. Der
Herausgeber ist ein wohlhabender Mann. Er druckt Trakls Verse, daneben
kümmert er sich um die Person des Dichters. Die komplizierte Persönlichkeit
des Mannes aus Salzburg, mitsamt seiner Rauschgiftabhängigkeit und
der heiklen Beziehung zur Schwester, nimmt er nachsichtig in Kauf. Er
spürt wohl, daß dies alles ein substantieller Teil von Trakls
außerordentlicher literarischer Begabung ist, sich das eine ohne
das andere also nicht habenläßt.
Unterdessen studiert Margarete Trakl immer noch, in Berlin. Sie wohnt
in einer Wilmersdorfer Pension, deren Besitzerin einen Neffen hat, Arthur
Langen, von Beruf Buchhändler. Die Studentin interessiert sich für
ihn. Sie läßt sich mit ihm ein. Die beiden heiraten schließlich,
im Jahr 1912.
Der Bruder reagiert panisch darauf. «Triff mich Schmerz! Die Wunde
glüht. Dieser Qual hab' ich nicht acht.» Er flüchtet in
eine geradezu fieberhafte literarische Produktivität. Außer
seinen Versen gibt es keinerlei Zeugnis, wie er die Nachricht von der
Hochzeit der Schwester aufnahm. Ihre metaphorische Vieldeutigkeit hat
sie zweifellos vor einer möglichen Vernichtung bewahrt. Im Gegensatz
zu den Briefen zwischen Georg und Grete, deren es zahlreiche gegeben haben
muß und die allesamt verloren sind: beseitigt, wie man annehmen
darf, von der Familie, die den Skandal, wo es ihn schon gab, wenigstens
nicht ungehindert an die Öffentlichkeit gelangen lassen wollte.
Grete und ihr Berliner Buchhändler führen unterdes keine glückliche
Ehe. Sofern dies ein versuchter Eintritt in die bürgerliche Normalität
werden sollte, ist er gründlich mißlungen. Grete macht Bekanntschaften,
sie hängt weiterhin dem Rauschgift an, die Verbindung zu Georg bleibt
unverändert. Sie muß eine Abtreibung vornehmen lassen. Georg
reist überstürzt nach Berlin, um ihr beizustehen. Es ist der
März des Jahres 1914. Manches spricht dafür, daß er der
Vater des ungeborenen Kindes war.
Der Sommer des Jahres 1914 findet den siebenundzwanzigjährigen Trakl
in Zuständen schwerer Depression, wieder einmal. Er bemüht sich
um Unterstützung für seine Schwester Grete und findet sie nicht.
Er betreibt sein eigenes berufliches Fortkommen und scheitert. Der Kriegsausbruch
erscheint fast wie eine Erlösung.
Gehorsam rückt er ein, als Medikamentenakzesist (Sanitätsoffizier),
und wird an die österreichische Ostfront geschickt. Gleich die erste
Schlacht, die er miterlebt, ist eine Aktion der blutigen Massenvernichtung;
der Anblick der Leichen, der pausenlose Umgang mit Verstümmelten
und Moribunden überwältigen ihn. Er bricht zusammen.
Sofort schafft man ihn in ein Militärhospital, wo er eine Weile liegt
und auf seinen Geisteszustand untersucht wird. Er muß befürchten,
vor ein Kriegsgericht zu kommen. Er nimmt von dem heimlich mitgeführten
Kokain zu sich, eine tödliche Überdosis. Der genialste Lyriker
Österreichs in diesem Jahrhundert stirbt Anfang November des Jahres
1914.
Wie seine Schwester die Nachricht vom Ableben ihres Bruders aufgenommen
hat, ist nicht bezeugt. Ihr Zustand dürfte besorgniserregend gewesen
sein. Ihr Mann hat sie verlassen. Sie wird es noch eine Weile probieren,
allein weiterzuleben, in Berlin. Zweimal entschließt sie sich, eine
Entziehungskur zu machen - beide Male ohne Erfolg. Schließlich schießt
sie sich eine tödliche Pistolenkugel in den Kopf: drei Jahre und
achtzehn Tage nach dem Datum von Georg Trakls Sterben.
(Wiedergabe mit Erlaubnis der Berliner
Morgenpost, wo der Text am 30.8.1998 erschienen ist.)
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