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5. Zusammenfassung und Resümee

Die vorliegende Arbeit versuchte, sich Trakls Dichtung - vom Aspekt der Mehrdeutigkeit geleitet, der ihr innerst wesensgemäß ist - weniger vermittels fixierenden Abhandelns denn mit schmiegsam-hellhörigem Behandeln zu nähern. Dies bedingte eine sich eher experimentell-vorantastende als ergebnisorientiert-festlegende Verfahrensweise. Mehrdeutigkeit als gestaltbildendes Element erforderte eine mehr der bestandsaufnehmenden Illustration als der Verifikation bedürftige Herangehensweise und gab zugleich ein evidentes Ergebnis vor. Dennoch firmierte sie keineswegs als unproblematisches, indifferentes Deutungskonzept oder als Patentrezept zur Annullierung respektive Umgehung der Verständnisprobleme, die Trakl notdringlich und per Verweigerung der rational-vereindeutlichenden Interpretation aufwirft.

Um zu dieser Problemstellung hinzuführen sowie das konkrete Auftreten unterschiedlichster Arten von Mehrdeutigkeiten aufzuzeigen, wurden zunächst ausführlich und eng am Text orientiert die beiden Gedichte „Abendmuse“ und „Gesang einer gefangenen Amsel“ diskutiert. Damit war eine Basis geschaffen, rückte doch bereits Vieles - von auffälligen Worten, Bildern und Motiven über mythische Evokationen, Musikalität bis zu dem fraglichen lyrischen Ich - in den Vordergrund, was später zu ausführlicheren Untersuchungen anregte.

So ergab sich die eingehendere Besprechung diverser Elemente der Mehrdeutigkeit unter Berücksichtigung ihres Vorkommens im Gesamtwerk, wobei das reife Spätwerk überwiegen mußte. Als naheliegender Einstieg drängte sich die Polysemie von Trakls Lieblingswörtern, die ihn zugleich bildlich, klanglich und stimmungsmäßig charakterisieren, auf. Hierzu bot sich der Bereich ‘Abend und Herbst’ an, dessen Umfeld exemplarisch ausgeleuchtet wurde. Um ein Motiv, das sich beim zweiten der eingangs diskutierten Gedichte hervordrängte, in seiner Gänze durch das Werk zu verfolgen, wurde die Amsel erörtert, ohne ihr eine der angebotenen oder sich anbietenden Deutungsformeln aufzupfropfen. Ersichtlich wurde schon bei der vorangehenden Besprechung von Lieblingswörtern wie ‘Verfall’, ‘dunkel’, ‘Traum’ und ‘Untergang’, daß die vielfältige Komplexität von Motiven/Symbolen/Chiffren - die Literatur zu Trakl ist über deren Anwendung uneins - selten an einzelnen Stellen, sondern durch die Verwendungen im Gesamtwerk beleuchtbar ist. Diese Erkenntnis verhalf zu einer nicht fixierenden, allerdings ebensowenig in indifferente Weite erodierenden Auffassung der anschließend besprochenen Farben. Sie wurden vermittels der Sekundärliteratur in ihrer Antinomik wie auch in ihrer überwiegenden Parallelität zur traditionellen Farbsymbolik dargestellt. Insbesondere ermöglichte dieses Verfahren auch ein Verständnis der in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzenden lyrischen Musik. Diese wurde in ihrer grundsätzlichen Mehrdeutigkeit vorgeführt: einerseits als durch Melos, Klang und Rhythmus in unmittelbarer Sinnlichkeit oft der Semantik mehr als ebenbürtiger Faktor, andererseits als mit Thematik, Wortfeldern und Synästhesien zum Inhalt gehörig. Damit war der Weg bereitet, das Gedicht „Rondel“ in seiner meditativ-versenkenden, suggestiven Wortmusik als Mantra zu interpretieren und solcher Verwendung anzuempfehlen.

Nachdem mit der Untersuchung jener Grundelemente der Mehrdeutigkeit eine Basis geschaffen war, konnte der Sprung zu dem großen Themenkreis Trakls und der Literatur überhaupt gewagt werden. Um sich Eros und Thanatos zu nähern, stellte sich indessen zunächst die Frage nach dem lyrischen Ich und der Identität überhaupt. Dessen Auflösung in Figuren, Stimmungen, Natur und Seele aktualisierte sich polar, aber untrennbar verwoben, zwischen Aufsplitterung, Gefährdung, Schwund und Expansion in eine über Rationalität und Ich-Bewußtsein hinausreichende, die konventionellen Gegensätze integrierende Sphäre. Dadurch wechselwirkte, ja identifizierte sich das lyrisch kosmisierte Ich mit allen von ihm versprachlichten Gegenständen. So waren die Ansatzpunkte entdeckt, um Trakl in seiner Gespanntheit zwischen Apokalyptiker und Utopiker anzusprechen. Zu ersterem wurde illustrierend die grundsätzliche Neigung seiner Poesie zum Thanatos vorgeführt, die sich vorzugsweise in den Verfallserscheinungen der Natur, Zivilisation und des in vielerlei Weisen dargestellten Menschen äußert. Die Existenz all dessen in der Phase des Untergangs impliziert trotz eschatologischer Züge auch einen Übergang. Zu Trakl als Utopiker leiteten weiterhin Wiedergeburtsmotive aus dem Bereich der Natur sowie die grundsätzliche Verwobenheit, ja schiere Identität von Leben und Tod, Alter und Jugend hin. Diese beiden sowie auch biographische Aspekte kulminierten in den ‘sterbenden Jünglingen’, einer Reihe mit Namen genannter, aus dem Mythos stammender und/oder poetisch mythisierter Gestalten, welche durch die - persönliche oder allgemeine - Apokalypse hindurch in einer Art Aufopferung zu Auferstehung und Wiedergeburt gelangen. Alle diese archetypischen Figurationen sind untereinander anspielungsreich verwoben, scheinen sich aber überwiegend auf die, mit Namen bezeichnenderweise im reifen Werk nicht erscheinenden, Christus und Dionysos als die unserem Kulturkreis wahrscheinlich bekanntesten Beispiele geopferter Fruchtbarkeits- und Erlösungsfiguren deuten zu lassen. Trakls utopischer Impetus schöpft aus den bei ihm untrennbaren Bereichen von Christusverehrung und -nachfolge[192] und uraltem Mythos. Er evoziert eine revitalisierende Magie, in welcher die getrennten Dinge, Seele und Natur bis hin zur Gottheit vereinigt sind. Diese todüberwindende Kosmisierung zu beschwören erwies sich als - zumindest eines der - Grundanliegen von Trakls Dichten.

Als letzte dieser mythischen Identifikationsgestalten war die ‘Schwester’ zu untersuchen. Sie wurde zunächst als ‘Jünglingin’, als Identifikationsgestalt der sterbenden Jünglinge bis hin zu Christus, in die das Dichter-Ich aufgelöst erscheint, sowie in der grundsätzlichen Vieldeutigkeit des Wortes erörtert. Der biographische Aspekt mußte, um ihre Polyvalenz in der Poesie nicht zu destruieren, hintangestellt verbleiben. Ihre komplexe, auch als Anima beschreibbare, Polarität reicht von Kind bis Dämon, von inzestuöser Wollust bis zur Mönchin. Zudem ragt sie in mythische Dimensionen und koinzidiert mit Mond, Wasser und Vitalität ebenso wie - auch votivisch - mit Verfall und Thanatos. Da die ‘Schwester’ die Zentralgestalt in Trakls Poesie und Leben ist, konnten viele Aspekte ihrer Mehrdeutigkeit wie der des Weiblichen überhaupt nur angerissen respektive in Ausblicken behandelt werden.

Abschließend widmete sich die Arbeit noch dem Gedicht „Abendland“, das sich durch seine Fülle von Mehrdeutigkeiten und vorher angesprochener Erscheinungsweisen und Techniken derselben anbot. Dabei konnte die Anwendbarkeit der Verfahren und Stimmigkeit der Erkenntnisse, welche zuvor gewonnen worden waren, erprobt werden. Im Kommentar zu diesem Gesicht, der sich an der Verflochtenheit von Leben und Tod orientierte sowie einen Schwerpunkt auf mythische Anteile gewichtete, ließen sich ebenso erstaunlich klare Aussagen wie eine Fülle von - allerdings niemals beliebigen - Deutungsangeboten herauskristallisieren. Solche jedoch festzuschreiben, hätte weder Trakls Poesie noch den Vorgaben dieser Arbeit entsprochen.


Folgende Ergebnisse und Erkenntnisse, die sich während unseres Annäherungsprozesses ergaben, sollen herausgestellt sein:

1. Die Anwendung literaturwissenschaftlicher - was meist hermeneutischer meinte - Methoden erwies sich gerade dort als fruchtbar, wo sie nicht überstrapaziert wurden, Respekt vor der Verweigerung der Dichtung ihnen gegenüber gewahrt blieb, sie nicht über ihre Grenzen und zu holistischen Ansätzen verführend eingesetzt wurden.

2. Dem in der Sekundärliteratur zu Trakl verschiedentlich angetroffenen Impuls, Bedeutung bei diesem Dichter grundsätzlich in Frage zu stellen - zumindest als Grundelement -, wurde nicht das Feld überlassen. Dies geschah allerdings nicht, weil andernfalls die gesamte Abhandlung - sind Bedeutung und Mehr-Deutigkeit doch eng verwandt - zu einem überflüssigen oder einer indifferenten Beliebigkeit erlegenen Elaborat abstempelbar gewesen wäre. Wie nicht zuletzt die Beschäftigung mit Trakl lehrt, darf Bedeutung in der Literatur, besonders in der Lyrik, nicht ausschließlich mit semantischen Kategorien gemessen werden, sondern muß auch Sinnlichkeit und unerschöpfbare Komplexität integrieren. Aufgrund ihres beschwörenden Elementes, wegen der durchaus auch auffindbaren - gerade wegen ihrer kosmisierenden Mehrdeutigkeiten klaren - Aussagen bei Trakl ist diese Poesie - nicht zuletzt auch im Sinne von herausragend, überzeitlich, und unvergeßlich - in unbeschreiblicher Manier be-deutend und/oder bedeut­sam.

3. Die vieldeutig-heteronymen Inhalte erwiesen sich immer wieder auf höherer, überrationaler Ebene als stimmig. Als Ursprung und harmonisch verbindendes Element fungiert durchweg die lyrische Musik. Damit aktualisiert sich eine Sphäre magisch-beschwörend-wirksamer Zaubersprüche innerhalb eines luziden, poetisch vermittelten Mysteriums. Doch ist Trakl deswegen keinesfalls als religiös-mythologiöser ‘Spinner’ oder gar Manipulator und Guru einzustufen. Die mythischen und religiösen Anspielungen beziehungsweise Inhalte erscheinen stets als ein Element neben anderen. Niemals sind sie Dogma, sie implizieren keine Weltgebäude oder oktroyierten sie gar auf; sie tragen noch nicht einmal Spuren gedanklich-argumentativer Ausformung.

4. Die Betrachtung von Mehrdeutigkeit ermöglichte den Zugang zu vielen Ebenen: von Ästhetik und Assoziation über Identifikation bis zu Seelenwirklichkeit und Magie. All dies, vor allem aber eben die Mehrdeutigkeit ist nicht zuletzt konstitutiv für die singuläre literarische Qualität Trakl. Manche dieser ins Unsägliche und Geheimnisvolle reichenden, im Einzelgedicht und Gesamtwerk immer wieder zur Einheit verschmolzenen Stränge geht über die Grenzen der Literaturwissenschaft hinaus. Überhaupt kann pure intellektuell-analytische Durchdringung niemals hinreichend für ein wirkliches Verständnis Trakls als Dichter wie als Mensch und Schicksal sein.

5. Durch die Beschäftigung mit Trakls Dichten und Leben scheinen folgende beiden Thesen Jungs, so unwahrscheinlich, ja fremdartig sie klingen mögen, akzeptabel: „Wenn auch eine ganze Welt aus den Fugen geht, so kann doch jene Allverbundenheit der dunkeln Seele nie in Stücke brechen. Und je weiter und zahlreicher die Spaltungen der Oberfläche werden, desto mehr wächst in der Tiefe die Kraft des Einen.“[193] - „Es scheint, als ob der Mensch, der vergeblich seine Existenz sucht und daraus eine Philosophie macht, nur durch das Erlebnis symbolischer Wirklichkeit den Rückweg in jene Welt, in der er kein Fremdling ist, wiederfindet.“[194]

6. An die mehrfach angesprochene Einheit von Dichter und Dichtung sei nochmals durch ein Zitat gemahnt: „Trakl hat sein Dichten gelebt und sein Leben in Versen zu bewältigen gesucht. Vieles, was seine Gedichte prägt, ist Spiegelung und Brechung persönlichen Erlebens, persönlicher Erfahrung.“[195] So haben wir denn auch, ohne dies überbetonen zu wollen, Parallelen zwischen Trakls Biographie und ihrer lyrischen Umsetzung in die ‘sterbenden Jünglinge’ festgestellt. Daher bestätigt sich in dieser Arbeit auch Neumanns Intention, den „Nachweis der schicksalsmäßigen Einheit von Person und Mythos in Gestalt und Dichtung Trakls“[196] zu erbringen. Lyrik erweist sich, gerade bei Trakl, als ein Destillat aus persönlichem Befinden und ästhetisch-geistig-politischen Zielen ihres Verfassers sowie einem sich Gleitenlassen in der Webe der Sprache. Dies läßt den gesamten Kulturgrund, inklusive seiner Präsenz in den archetypischen Weiten der Seele, einfließen.

7. Grundbedingung ernsthafter Beschäftigung mit Trakls Dichtung ist, sie in ihrer Mehrdeutigkeit zu belassen, ohne sie zum Objekt subjektiver Willkür oder bloßen Biographismusses zu degradieren. Vielmehr sollte, besser: darf ihr mit der Aufmerksamkeit aller Sinne, der Phantasie, der Literaturwissenschaft, mit sprachlichem, emotionalem und assoziativem Feingefühl nachgespürt werden. So darf man denn, ohne dazu gezwungen zu sein, Heideggers Erkenntnis als Schlußwort zur Untersuchung der Mehrdeutigkeit anerkennen oder gar nacherleben: „Die einzigartige Strenge der wesenhaft mehrdeutigen Sprache Trakls ist in einem höheren Sinne so eindeutig, daß sie auch aller technischen Exaktheit des bloß wissenschaftlich-eindeutigen Begriffes unendlich überlegen bleibt.“[197]

Nach dem Zusammenfassen der Ergebnisse und den Resümees soll abschließend an Prinzip und Wunschvorgabe - ergo an seinen Gradmesser - des Schreibexperimentes dieser Arbeit erinnert sein: Trakls Dichtung nicht seziererisch nahe getreten zu sein, sie als unwiederholbaren und luziden Sprachartefakt behandelt und gewürdigt, vielleicht sogar einige Wegweiser zu einer ihr gemäßen Annäherung markiert zu haben.

Zumindest aber möge sie als Dokument für die Wirksamkeit der, vor allem aber als Ermutigung zum Einlassen auf die Intention Trakls gedient haben, die Walther Killy erkannt hat: „Diese Poesie benötigt und provoziert das Weiterdichten im Hörer, die Unendlichkeit ihrer Kombinationen sucht Fortsetzung, um sich zu verwirklichen.“[198]

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Fußnoten:

[192] Deren Qualität formuliert Basil: Trakl, S. 135: „Manchen Äußerungen Trakls ist zu entnehmen, daß er das Christentum als geistige Revolte, als extremes Ausgesetztsein, ja als heiligen Aussatz, als Brandmal ansah (...).“
[193] Jung: Wirklichkeit der Seele, S 38
[194] Jung: Archetypen, S. 106
[195] Hellmich: Klang und Erlösung, S. 18
[196] Neumann: Trakl - Person und Mythos, S. 238
[197] Heidegger: Trakl. Eine Erörterung..., S. 71
[198] Killy: Über Georg Trakl, S. 31

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