Tobias Falberg
* 1976, Wittenberg; in Nürnberg lebender Lyriker, Prosaist und Zeichner (zu einer Kurzbiographie und Textproben).

Gedächtnismodul GT

Zum 100-jährigen Jubiläum von Trakls erster Gedichtveröffentlichung, unter Verwendung von Gedicht- und Briefzitaten.

„Welch Meilenstein der Kunsthistorie! Ich halte in meinen Händen das Gedächtnismodul Georg Trakls. Dieser Helm ist die Schnittstelle. Kurzwellige Frequenzen reizen die Hirnlappen und speisen so die Daten in die Zielperson ein. Zusätzlich wird eine niedrige Dosierung LSD-25 zur Öffnung des Bewusstseins verwendet, was nie ohne Aufsichtspersonal geschehen soll, auch wenn die Technologie ausgereift und mehrfach getestet ist. Nicht? Ach so.
   Dann zu unserem Experten. Herr Schmall ist langjähriger Trakl-Forscher und half, eine adäquate Innensicht dieses genialen, von Drogen durchwirkten Dichters zu entwerfen, der wohl mehr Farbadjektive verwendet hat als jeder Innenarchitekt. Natürlich weiß auch Herr Schmall nicht – und niemand wird es je genau wissen – ob Georg und seine Schwester Margarethe wirklich ein Paar waren, ob er vielleicht sogar der Vater des Kindes war, das sie abtrieb. An dieser Stelle sei die schreckliche Tatsache in Erinnerung gerufen, dass die Familie den gesamten Briefwechsel der beiden Geschwister vernichtet hat, um einen Skandal zu vermeiden, so die Vermutung.
   Doch spannen wir das Publikum nicht länger auf die Folter. Das Modul ist hochgefahren. Herr Schmall selbst wird es als erster testen. Er ist mit LSD versorgt und angeschlossen. Erleben Sie mit uns die Premiere des …“

… Nebelschleiers, dahinter Salzburg. Ich laufe hinein. Die Straße rollt sich auf und peitscht wie ein Schlangenleib im Todeskampf, so dass es schwer ist, ihr zu folgen. Der Kapuzinerberg steht in herbstlichen Flammen. Die spangrüne Kuppel des Doms öffnet sich wie ein Sonnentaublatt, an dessen Tentakelspitzen kristallene Amseln sitzen. Sie klagen mich an in den Liedern.
   Schneller laufe ich, schneller, am Ruf des Brunnens vorbei. Gelb kreiselt Helios über dem Residenzplatz. Meine Hand fühlt sich taub an. Meine plötzliche Angst ist Georgs Angst. Aus den Spiegeln der niedrigen Fenster kommt mir sein Gesicht entgegen.
   Ich denke an Grete. Wo mag sie sein? Ihr Geruch taucht auf, Eisen und Erdbeeren, aufleuchtend an ihrem warmen Körper. Ich lausche ihrer leisen, festen Stimme, die Musik für mich ist. Zusammen gehen wir den Weg zur Schule. Hinter verfallenen Mauern sehe ich das Lager unserer Küsse. Ich fühle die fürchterlichsten Möglichkeiten, rieche und taste sie, ich höre im Blut Dämonen heulen, tausend Teufel mit ihren Stacheln, die das Fleisch wahnsinnig machen.
   In der Apotheke reihen sich Fläschchen. Chloroformgeruch steigt in meine Nase, alle Gegenstände sind weiß überstäubt. Jeder Raum hält andere Schmerzen bereit. Es wird so kalt, dass mir die Gedärme einfrieren. Ich gieße Wein in die mondne Kühle, bis ich mich nicht mehr spüre, und schreie Gedichte vom Dach.
   Unter mir gleitet die Straße davon. Im Gestrüpp des Brückengeländers finde ich Halt. Rötlich steigen im Graugrün des Wassers die Fische. Schwarz wächst der Wald. Auf goldenem Kahn sterben Liebende zum anderen Ufer hinüber.
   Das Grauen packt mich an der Schulter, schüttelt mich, es ruft: Kommen Sie zu sich!
   Komm zu mir, Grete. Abendrosiges Gebirge. Schwesters Schatten schwankt durch den schweigenden Hain. Blau tritt sie heraus aus den Bäumen, ein dürstendes Tier. Dunkler umfließen die Wasser die schönen Spiele der Fische. Niemand nimmt von uns die Schuld. Silbern blüht der Dorn, ein gewaltiges Sterben, mit singender Flamme im Herzen.
   Zeit öffnet sich wie zwei Lippen. Weiße Zimmer türmen sich auf, Krankenhausgänge. Stunde um Stunde umschwirren mich Ärzte und nennen mich Schmall. Ich weiß nicht, wovon sie reden. Als es mir gelingt, das Zimmer zu verlassen, finde ich Grete. Fiebernd kauert sie im Bett und will mich nicht erkennen. Als ich mich zu ihr lege, schreit sie.
   Eine Kittelprozession trägt mich fort. Ich will den Arm heben. Er bewegt sich kaum vom Laken. So liege ich rosig in weichen Kissen. Täglich kommt die gelbe Sonne über den Hügel. Langsam reift die Traube, das Korn. Wenn sich der Tag neigt, ist ein Gutes und Böses bereitet.
   Jemand hält mir einen Spiegel vors Gesicht. Kennen Sie diesen Mann? Er kommt mir bekannt vor, das stimmt, aber ich weiß nicht, ob ich in seiner Haut stecken möchte.

(Der Text erschien am 24.6.2008 in den "Fürther Nachrichten").