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Kaleidoskope der Mehrdeutigkeit,
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2. Problemstellung anhand zweier Gedichte

2.0 Vorbemerkung

Um das weite Feld der Mehrdeutigkeit faßbar zu machen und einigermaßen abzustecken, sollen zunächst die beiden Gedichte „Abendmuse“ und „Gesang der gefangenen Amsel“ diesbezüglich untersucht werden. Als Einstieg kann es nur dienlich sein, die dem jeweiligen Text innewohnende Polyvalenz darzustellen, um das Phänomen en detail aufzuzeigen und zu illustrieren, ohne sich in eine der vielen eröffneten Deutungsrichtungen, z.B. im Gesamtkontext des Werkes, zu verflüchtigen oder dem in der Einleitung erwähnten ‘progressus ad infinitum’ zu erliegen.

Als erstes Gedicht dient hierzu „Abendmuse“, weil es auf später zu Behandelndes vorwegzuweisen geeignet ist. Durch die Vielfalt der angesprochenen Bereiche, den harmonisch-gestimmten Ton und die Titelgebung darf sich uns die Vermutung aufdrängen, hier habe Trakl zumindest manches von dem genannt, was ihm ‘Musenküsse’ zu vermitteln imstande war.

Dem folgt „Gesang der gefangenen Amsel“, das sich aufgrund seiner Kürze und extremen Vieldeutigkeit dazu anbietet, den Versuch, diese zu erhellen, auf eine bis zur Absurdität reichende Spitze zu treiben. Hierbei wirft sich nicht zuletzt die Frage nach der Eignung und dem Sinn literaturwissenschaftlichen Analysierens bei solchen Texten auf; das Beispiel gereicht zum Prüfstein der Methodik.

2.1

Abendmuse

Ans Blumenfenster wieder kehrt des Kirchturms Schatten
Und Goldnes. Die heiße Stirn verglüht in Ruh und Schweigen.
Ein Brunnen fällt im Dunkel von Kastanienzweigen -
Da fühlst du: es ist gut! in schmerzlichem Ermatten.

Der Markt ist leer von Sommerfrüchten und Gewinden.
Einträchtig stimmt der Tore schwärzliches Gepränge.
In einem Garten tönen sanften Spieles Klänge,
Wo Freunde nach dem Mahle sich zusammenfinden.

Des weißen Magiers Märchen lauscht die Seele gerne.
Rund saust das Korn, das Mäher nachmittags geschnitten.
Geduldig schweigt das harte Leben in den Hütten;
Der Kühe linden Schlaf bescheint die Stallaterne.

Von Lüften trunken sinken balde ein die Lider
Und öffnen leise sich zu fremden Sternenzeichen.
Endymion taucht aus dem Dunkel alter Eichen
Und beugt sich über trauervolle Wasser nieder. (S. 16 f.)

Jedem Leser dieses Gedichtes, ob er ihm interpretatorisch zu Leibe rücken oder aus ihm Genuß und Anregung gewinnen will, wird unweigerlich auffallen, welch viele unterschiedliche Bereiche, Sphären, Wirklichkeiten es umfaßt, ohne sich in Wortwahl, Duktus und Ton zu zerspreizen. Das offensichtliche oder zumindest scheinbare Fehlen eines äußeren inhaltlichen Zusammenhanges oder lyrischen Ichs kompensiert die durchgängig sanfte und harmonische Melodie der Verse und das Verwoben-, ja Einssein ihres Sprechers mit den von ihm versprachlichten Gegenständen. Der mangels eines treffenderen Begriffes Sprecher Genannte mag sich hinter vielerlei verbergen: der heißen, verglühenden Stirn im zweiten Vers, dem sich als solchen anbietenden Selbst-Zuspruch als ‘Du’ im vierten, dem Einträchtiggestimmtsein im sechsten, unter den ‘Freunden’ im achten Vers; er könnte entweder-oder, wahrscheinlich sogar sowohl-als-auch der weiße Magier und die Seele, das Korn und die Mäher in den ersten beiden Versen der dritten Strophe sein; in der Schlußstrophe tritt er als Endymion auf und sicher gehören zu ihm auch die Lider in deren erstem Vers respektive ist er in diesen Bildern ausgedrückt oder eingefaßt. All diese und noch weitere Hypothesen begründen das Hauptelement der Mehrdeutigkeit dieses Gedichtes: Das vom Leser intendierte Ich ist in einem sanften, harmonischen Fluß von Bildern, Symbolen, Figuren und lyrischer Musik - wie wir es nennen wollen - aufgelöst, mit wahrscheinlich allen erscheinenden Dingen und Gestalten identifiziert.

Die äußere Form des Gedichtes kongruiert damit: Der das eben Aufgeführte - viel mehr als etwa ein gekreuzter - widerspiegelnde umfassende Reim in den vier vierversigen Strophen, der bis auf eine Stelle völlig regelmäßige sechshebige Jambus, was für Trakl, zumindest bis zu seinem letzten Gedichtszyklus „Sebastian im Traum“ nicht untypisch ist: „Auffällig ist der häufige Gebrauch des sechsfüßigen Jambus, dieses schönen schwermütigen Versmaßes, ohne den klappernden Mittelschnitt des Alexandriners.“[15]

Die Charakterisierung ‘schön schwermütig’ läßt sich auf das vorliegende Gedicht übertragen. Die Szenerie der ersten drei Strophen ist eine abendlich-dörflich-ländliche, Vers zehn gibt als Jahreszeit eindeutig die der Ernte an, ohne daß im Gesamttext dem Widersprechendes anzutreffen wäre. Das bei Trakl, ähnlich dem hier dominierenden Abend, so beliebte Motiv des Herbstes wird indessen nicht erwähnt; doch „der Markt ist leer von Sommerfrüchten“, die nicht nur bei Trakl oft mit dem Herbst verbundene Farbe ‘Gold’ wird genannt; ‘Schatten’, ‘schweigt das harte Leben’, die Kühe in den Ställen verweisen auf jene Jahreszeit, „trunken sinken balde ein die Lider“: Herbst also auch im dionysischen Sinn. Und könnte nicht die in ‘Ruh und Schweigen’ verglühende heiße Stirn außer einer das Intellektuell-Rationale meinenden pars-pro-toto-Metonymie für das verborgene lyrische Ich auch der Sommer selbst sein? ‘Gold’, das in seiner ambivalenten Symbolik später beleuchtet werden soll, deutet einerseits auf Sonne und besonders, da es hier wie ‘des Kirchturms Schatten wieder kehrt’, zur religiösen Kontemplation, andererseits auf Herbst und Weltlichkeit. Der Punkt nach ‘Goldnes’ markiert auch die einzige metrische Abweichung des Gedichtes, eine doppelte Senkung. Dieses durch das Satzende noch unterstützte rhythmische Stolpern und/oder Innehalten versinnfälligt das Erscheinen des Herbstes als kaum merklichen Bruch, der wiederum zur Ambivalenz der Farbsymbolik von ‘Gold’ adäquat ist: Die weitere, das vorherige nicht ausschließende Möglichkeit müßte nochmals die ‘Stirn’ mit dem Sprecher identifizieren und diesen so als Sich-Daneben-Stellenden oder Daneben-Gestellten, als Außenseiter formal verdeutlichen. Desweiteren verglüht jenes mit der ‘Stirn’ üblicherweise verbildlichte, ‘heiß-laufende’ Denken, Wollen und Empfinden, was trotz oder wegen des zugehörigen ‘schmerzlichen Ermattens’ als ‘gut’ erfühlt ist. All dies erlaubt wohl erst das Mitgleiten in dem oben beschriebenen Fluß, ermöglicht den und ist der Musenkuß - um auf das in der Vorbemerkung zu diesem 2. Kapitel gewagte Wort zurückzukommen -, aus dem Gestimmtheit und Ausdruck des Gedichtes erwachsen können.

Eine Konklusion aus dem bisher Erwähnten sei eingeschoben: Ohne Explifizierung oder bewußtes Bemerken ist der Herbst mit seiner Traklschen Schwere und Vielfalt der Bedeutungen gekommen. Diese Grenze von Sommer und Herbst, eben die zunächst scheinbar klar gekennzeichnete Erntezeit, ist eine der hauptsächlichen inhaltlichen Mehrdeutigkeiten, deren Präsenz andererseits wiederum die unterschiedlichen Bereiche und Sphären umkleidet, aus der diese - in mehrfachem Wortsinn - ihren Ton schöpfen. Der dadurch musisch ge- und bestimmte Sprecher sinkt aus dem weltlich-sinnlichen und individuierenden Sommer in den ruhigeren, alles vereinenden Urgrund zurück, den er durch das beginnende Versinken von Natur und Mensch im Herbst erspürt.

Untersuchen wir nun das dergestalt Eingerahmte, das exklusive eines Verses genau auf je eine Strophe verteilt ist. Die erste liegt unter ‘des Kirchturms Schatten’, ihr eignet eine religiös-kontemplative Dimension, die sich in den schon besprochenen Motiven ‘Goldnes’ und der in ‘Ruh und Schweigen’ verglühenden Stirn ahnen läßt, wobei letzteres auch eine Abkehr von Emotionalität und Intellekt zu innerer Einkehr und Transzendenz zu versinnbildlichen vermag. ‘Es ist gut’ erinnert an den Eindruck des Schöpfergottes der biblischen Genesis über die just fertige Welt, wobei hier eine metaphysische Bejahung nicht nur der sinnlichen und übersinnlichen Sphäre, sondern auch des ‘schmerzlichen Ermattens’ und alles Folgenden evoziert ist. Diese Feststellungen würden nach Überinterpretation klingen, gäbe es da nicht den dritten Vers, der wahrhaft ‘im Dunkel’ bleiben muß, da es ebenso widersinnig wie unmöglich ist, einen Brunnen von Zweigen fallen zu sehen. Andererseits könnte das Fallen von Wasser eines unter Kastanien gelegenen Brunnens gemeint sein; jedenfalls gehört ‘Dunkel’ mit ‘Ruh und Schweigen’ in eine andere, unsagbare Sphäre. Wie auch immer zu deuten: Der im dritten Vers beschriebene Vorgang stellt eine Art Illumination dar - es könnte auch an Beodmung gedacht werden -, die zum Gefühl des ‘es ist gut’ führt. Brunnen und Quelle gelten seit je als „Bilder der körperlichen und geistigen Stärkung und Reinigung. Die als heilig und heilkräftig geltenden Quellen wurden auf vielfältige Weise mit Gottheiten in Verbindung gebracht (...)“[16]. Für die Kastanie lassen sich kaum Belege symbolischen Gebrauchs auffinden, dennoch dürfen wir hier sicher an einen Baum der Erkenntnis denken, zumal die Frucht mit ihrer Stachelhülle diesen Gedanken affirmieren kann.

Einfacher zu fassen ist die zweite Strophe: Während der ‘leere Markt’ und das ‘schwärzlich’-gewordene ‘Gepränge’ den Faden herbstlicher Einkehr, wozu wiederum die ‘Tore’ passen, weiterspinnt, gibt ‘einträchtig’ eine Art Leitwort für das Folgende: die ‘Freunde’, die ‘nach dem Mahle sich zusammenfinden’, den ‘Garten’, wo ‘sanften Spieles Klänge’ tönen. Eine ebenso friedvolle wie menschlich-geborgene Atmosphäre wird entworfen, die als Wirkung und Ausfluß der vorherigen Strophe gelten darf. Ebenso auffällig wie erhellend ist der Hinweis, daß in dieser zweiten Strophe, besonders im letzten Vers, beinahe die Ode „Abendphantasie“ von Friedrich Hölderlin zitiert ist:

(...) fröhlich verrauscht des Markts
Geschäftiger Lärm; in stiller Laube
Glänzt das gesellige Mahl den Freunden.[17]

Hölderlin ist als Vorbild- und Lichtgestalt für Trakls Werk ebenso evident wie die Implikation zumindest wesentlicher Aspekte seiner „Abendphantasie“ in dieser Strophe. Auch sie beinhaltet die in „Abendmuse“ nur wenig angedeuteten, aber allgemein bei Trakl häufigen Aspekte der erlittenen Einsamkeit (Hölderlin: „Wohin denn ich? (...) warum schläft denn / Nimmer nur mir in der Brust der Stachel?“), des Auflösens dieses Leides in einer religiösen Sphäre („... möge droben // In Licht und Luft zerrinnen mir Lieb und Leid!“), sowie den lindernden Einfluß des Herbstes, der bei Hölderlin als Lebensherbst erscheint: „... doch endlich, Jugend! verglühst du ja, / Du ruhelose, träumerische! / Friedlich und heiter ist dann das Alter.“ Und sind die Titel Abendmuse und Abendphantasie nicht sogar in gewisser Weise synonym, da die Muse doch eine Phantasie und die Phantasie eine Muse zu sein vermag?

Die dritte Strophe läßt sich als bäuerlich charakterisieren, wobei ‘des weißen Magiers Märchen’ schon auf die andere Wirklichkeit der Schlußstrophe verweist und somit die ländlich-rurale Szenerie rahmt. Die syntaktische Struktur dieses Verses bewirkt eine Zweideutigkeit: Es kann sich, was zunächst naheliegt, um vom ‘weißen Magier’ erzählte wie auch um ihn als Protagonisten führende ‘Märchen’ handeln, was beides sinnvoll erscheint. Das ‘harte Leben’ ist mit Sympathie und Empathie geschildert, besonders die ebenso schöne wie zutreffende Impression eines Kuhstalles, so daß dem Sprecher keinesfalls Idyllismus oder - betrachtet man die religiöse Weltferne der ersten Strophe, den ein wenig hermetischen Feierabend der zweiten und die magisch-mythische Wirklichkeit des Schlusses - elitäre Weltabgewandtheit unterstellt werden könnte. Die Kornmäher bedürfen als Herbst- und Todessymbol keiner weiteren Erläuterung; bemerkenswert ist die schier unwirsche Dynamik, mit der gesagt ist ‘rund saust das Korn’, obwohl es doch bereits geschnitten ist. Es ist dies ein motivischer Hinweis auf die später genauer zu untersuchende Annäherung, ja Verschmelzung der Antonyme Tod und Leben, eines Grundgehaltes von Trakls Poesie und deren Polyvalenz. Was die dritte Strophe betrifft, ist noch anzumerken, daß sie trotz aller, wenn auch knappen, Realistik vermittels besagter Empathie ebenfalls eine Imago der in ihrem ersten Vers genannten ‘Seele’ liefert und ihr die Kontemplation der ersten Strophe immanent ist. Auf diese verweisen ‘geduldig schweigt’ und der ‘linde Schlaf’ der Kühe, jener friedlich-bedächtigen Tierart; daß dies von einer Laterne beschienen wird, kann als Pendant zur erwähnten Illumination gewertet werden.

Die vierte Strophe inklusive des ersten Verses der dritten kehrt sich, wie bereits angedeutet, einer magisch-mythischen Welt zu, was durch die Gestalten des ‘weißen Magiers’ und die ‘Endymion’-Epiphanie, ‘Märchen’ und die bezeichnenderweise ‘fremden Sternenzeichen’ belegbar ist. Der Magier fügt sich mit seinem Farbattribut ‘weiß’, was ihn jeglicher bedrohlich-verderblichen schwarzen Magie enthebt, in den positiv gestimmten Grundton des Gedichtes ein. Allerdings ist der Symbolwert von ‘weiß’ - die vielleicht komplexeste, antinomischste aller Farben - hier nur knapp zwischen blüten- und schneefarben, rein und gespenstisch zu fassen.[18] Das Auftreten einer über Sinne, Gegenwart und Landschaft hinausreichenden Dimension konkretisiert sich zudem, indem die Seele lauscht und die eigentlich zunächst gesunkenen trunkenen ‘Lider’ - die Trunkenheit ‘von Lüften’ wird durch das über den sacht beginnenden Herbst und alles von ihm Ausgelöste verständlich - sich paradoxerweise öffnen. Es wird also eine andere Wirklichkeit zugänglich, wobei besonders Rausch und durch das im Gedicht vielfach präsente Schlaf-Motiv auch Traum naheliegen. Die ‘trauervollen Wasser’ des Endverses - bei dem konventionell negativ empfundenen Attribut ist an das schon zitierte ‘schön schwermütig’ zu erinnern - verweisen außerdem auf den verwandten, wenn auch im Gegensatz zum Schluß eher christlich konnotierten, Bereich der Eingangsstrophe und den Brunnen. Wie Endymion aus ‘dem Dunkel alter Eichen’ auftaucht, ‘fällt’ jener im ‘Dunkel’ von Zweigen. Die Gestalt des Endymion gehört der griechischen Mythologie an; er ist ein Halbgott, der Eroberer des Königreiches Elis - was auf eine hier nur zu erwähnende wichtige Gestalt in Trakls Werk verweist - und der Geliebte der Mondgöttin Selene, nach deren Kuß er in einen andauernden traumlosen Schlaf verfiel, aber auch ewige Jugend gewann.[19] Er ist damit genügend als nächtlich-unbewußt, zur Sphäre von ‘Ruh und Schweigen’ gehörend charakterisiert. Ob bewußt oder intuitiv hat Trakl ihn zusätzlich - indem er ihn aus den wohl nicht nur an Lebensalter, sondern auch kongruent zur evozierten mythischen Schicht ‘alten Eichen’ tauchen läßt - als einen jener Heroen und Sakralkönige kenntlich gemacht, denen dieser Baum heilig war, die Träger der Fruchtbarkeit des Landes darstellten und für diese geopfert wurden. Dies mag noch in Endymions ‘beugt sich über trauervolle Wasser nieder’ und hintergründig im herbstlichen Einsinken des Gesamtgedichtes anklingen. Zudem ist er durch ‘tauchen’ und den Schlußvers im Zusammenhang mit Wasser eingeführt, was zu seinem lunaren mythischen Kontext paßt. Weiterhin ist in ihm noch eine ergänzende Erscheinungsform des zu Beginn herabfallenden ‘Brunnens’ zu vermuten, ohne den dritten Vers damit seines Doppelsinnes entheben zu wollen. Daß Endymions Schlaf euphemistisch für Opfer und Tod steht, braucht mythologisch nicht näher belegt zu werden, sticht uns doch diese Identität oder zumindest Parallele - wenn nicht schon durch die Redensweise ‘der Schlaf ist ein Bruder des Todes’ - durch Trakl selbst ins Auge: Zum einen hat er sich durch den Einsatz von Chloroform gelegentlich tagelang in einen todesähnlichen Schlaf geworfen, zum anderen lautet der Beginn eines der letzten beiden vor seinem Tod entstandenen Gedichte:

Schlaf und Tod, die düstern Adler
Umrauschen nachtlang dieses Haupt:
Des Menschen goldnes Bildnis
Verschlänge die eisige Woge
Der Ewigkeit. (S. 94)

Erscheint Endymion somit nicht als ein Glied jener mythischen Figuren, zu denen auch „(...) Jesus als letzte Theophanie des gleichen leidenden Sakralkönigs, den sie schon seit undenklichen Zeiten unter verschiedenen Namen angebetet hatten“[20], gehört und für die sich in Trakls Werk, vorzugsweise als Identifikationsgestalten, viele weitere Beispiele finden lassen? Dies soll allerdings hier noch nicht weiterverfolgt werden, da die Gefahr des Abgleitens in Details und mythische Spekulation zu meiden ist. Festzuhalten bleibt indessen, wie geschickt und stimmig Endymion in den Kontext des Gedichtes verwoben ist, nicht zuletzt unter Beachtung mythengeschichtlicher Nuancen. Die sich aus alledem ergebenden Aspekte von Mehrdeutigkeit sind wohl kaum aufzählbar, obwohl das Gedicht nie der Gefahr unterliegt, deswegen amorph zu wirken oder zu einem motivischen Sammelsurium zu verschwimmen.

Ohne weiter in Einzelheiten von Bildlichkeit und Sprachform gehen zu müssen, ist die Weite der Wirklichkeiten, der Bilder, Assoziationen und des seelischen Erlebens in dem diskutierten Gedicht offengelegt, was im Einzelnen durch Mehrdeutigkeiten erwirkt wird und im Gesamten die komplexe, viele Ebenen harmonisch verbindende Mehrdeutigkeit erwachsen läßt. Wichtig muß aber die abschließende Frage sein, was in der Weite des Dargestellten fehlt. Mit Blick auf Trakls restliches Werk wären die Erotik, das bis zu Ekel und Apokalypse reichende Verfallen und der letzterem eng verbundene Bereich von Stadt und moderner Zivilisation zu nennen. Über den Eros kann an dieser Stelle nur soviel angedeutet sein: Für die in „Abendmuse“ ersungene seelische Harmonie wäre er im Traklschen Erleben als Störfaktor denkbar, wahrscheinlich kommt diese nur durch die Abkehr von erotischer Liebe zustande, was wir als ein weiteres Segment in den Deutungskomplex von ‘die heiße Stirn verglüht...’ einfügen dürfen. Ähnliches gilt für das später zu erörternde Motivfeld Stadt/moderne Zivilisation: „Die Großstadt verkörperte ihm den Wahnsinn und das Böse überhaupt.“[21]

2.2

Gesang einer gefangenen Amsel
für Ludwig von Ficker

Dunkler Odem im grünen Gezweig.
Blaue Blümchen umschweben das Antlitz
Des Einsamen, den goldnen Schritt
Ersterbend unter dem Ölbaum.
Aufflattert mit trunkenem Flügel die Nacht.
So leise blutet Demut,
Tau, der langsam tropft vom blühenden Dorn.
Strahlender Arme Erbarmen
Umfängt ein brechendes Herz. (S. 74)

Dieses nur aus neun Versen bestehende Gedicht bietet die Gelegenheit, Trakls auf die Spitze getriebenen Umgang mit den verschiedenen Arten von Mehrdeutigkeit in seinem Spätwerk „Sebastian im Traum“ aufzuzeigen. Der spontane Eindruck, einen, wenn auch dem Intellekt oder interpretatorischen Zugriff unzugänglichen,  so doch stimmigen, in sich harmonischen Text vorliegen zu haben, läßt sich anhand von Wortwahl, einer lyrischen Person und der Form kaum nachweisen. Eher wäre zu exemplifizieren, daß er wie einige Traklsche Texte sich einem derartigen Zugang sogar verweigert. Die unterschiedlichen Techniken, Mehrdeutigkeiten entstehen zu lassen, stellen die Hauptmethode einer Destruktion dar, die dem Leser das Herausfiltern einer auch nur vagen Interpretation verunmöglicht. Dies soll nun mit einer Bestandsaufnahme des Gedichtes, die sich einer generalisierenden oder partiellen inhaltlichen und thematischen Fixierung enthält, um dem Werk mit seiner immanenten Verweigerung adäquat zu sein, demonstriert werden.

Formal ist das Gedicht, im Gegensatz zu dem zunächst besprochenen, durch keinen Reim oder ein regelmäßiges Metrum ausgezeichnet, obwohl dies durch den Ausdruck ‘Gesang’ im Titel in einem traditionellen Sinn vielleicht zu erwarten gewesen wäre. Nur mit syntaktisch zusammengehörigen Wortgruppen sind die Verse aufgebaut, was sie allerdings in Rhythmus und Klang noch näher an die jeweiligen Worte anschmiegen läßt und die wohltönende Melodik, die für Trakl so typisch ist, unterstützt. Mehr als jede schematische Reimform bildet dies Kontraste und Dissonanzen, welche die Worte bergen, rhythmisch nach und bewirkt die unleugbare Harmonie der zumindest äußerlich tröstlich abschließenden Verse mit.

Wahl und Kombination der Worte evozieren von Beginn an Gegensätzliches, scheinbar Unpassendes, wiewohl keines für sich genommen unverständlich oder nur außergewöhnlich ist. Schon ‘dunkler Odem’ in ersten Vers erscheint als Widerspruch in sich. ‘Odem’ kann einerseits das poetische Wort für ‘Atem’ sein, andererseits der Lebensodem des Schöpfergottes der Genesis. In jedem Fall muß man über das vorgestellte Adjektiv ‘dunkel’ stolpern: Konnotieren wir Atem als Lebenshauch wie auch den Odem eines ewigen Lichtgottes nicht üblicherweise viel eher mit Helligkeit? Noch eklatanter wird dies, da der Odem ‘im grünen Gezweig’, also überraschenderweise im Reich der Flora, nicht der Fauna, der er leichter zuzuordnen wäre, vorgestellt wird, was wiederum eher auf Helle, Frühling und Vitalität hindeutet. Durch das Fehlen des Prädikates erhält Odem/Atem quasi einen dauerhaft präsenten Zustand, obgleich er sich eigentlich stets als dynamischer Takt ereignet.

Mit dem ‘grünen Gezweig’ ist allerdings ein Bild- und Motivfaden eingeführt, der alle Verse verbindet: das pflanzlich-vegetative Element, das uns noch im ‘blühenden Dorn’, dem ‘Ölbaum’ und den ‘blauen Blümchen’ begegnet. Hilft es dabei weiter, traditionelle Symbolwerte einzubeziehen, so verlockend und beim ersten Gedichtbeispiel fruchtbar der Versuch gewesen ist? Der bei Trakl so häufige und bedeutende Einsatz von Farben sowie die Nähe von ‘blau’ und ‘golden’ ist unter dem dieser Erscheinung gewidmeten Kapitel 3.1.3 noch zu belegen. Die zunächst obskur und synästhetisch wirkende Fügung ‘goldener’ Schritt gewinnt allerdings ein wenig, wenn auch nicht eindeutige, Klarheit, wenn man ‘Gold’ als Farbe der Sonne und somit der Erleuchtung und im weiteren Sinne auch der Vornehmheit und Heiligkeit wahrnimmt.[22] Doch: „Wie die meisten Symbole ist auch das Gold ambivalent. Es ist Synonym für Geld und Symbol für irdische und damit vergängliche Schätze“.[23] Somit ist der ‘goldene Schritt’ einerseits ein Wandeln im Numinosen und Erleuchteten, der zudem durch die Satzstellung mit dem somit möglicherweise als kontemplierend charakterisierten ‘Einsamen’ gleichgesetzt wird, trägt andererseits aber auch die Gefährdung durch das Profan-Materielle mit sich. Aus dieser Spannung wird sein ‘ersterbend’ wie auch das ‘brechende Herz’ des Endes etwas verständlicher.

Der Ölbaum war den antiken Mittelmeerkulturen heilig, soll dort und nach biblischem Verständnis ein Symbol der Weisheit, des geistigen Lichtes, damit durchaus mit dem ‘Gold’ korrespondierend, und des Friedens sowie auch von Fruchtbarkeit und Unsterblichkeit sein[24], wobei dies in Verbindung mit ‘ersterbend’ eine neuerliche Paradoxie ergeben würde. Assoziations- und Symbolwert ‘blühenden Dorns’ sind noch viel disparater, insbesondere weil keine bestimmte Pflanze gemeint ist: Dorn und Stachel als Metapher für idealisch-schmerzhaftes, unaufhörliches Getriebensein ist in der Literatur, ja sogar im üblichen Sprachgebrauch häufig anzutreffen. Ein Beispiel ist die schon zitierte „Abendphantasie“ Hölderlins:

(...) warum schläft denn
Nimmer nur mir in der Brust der Stachel?[25]

Zudem muß an die Dornenkrone Jesu gedacht werden, da der dritt- mit dem viertletzten Vers („blutet Demut“) syntaktisch gleichgestellt ist, was die Deutungsmöglichkeiten nochmals vervielfacht. Die Anspielung auf Novalis’ blaue Blume[26], das bekannteste Symbol der Romantik, führt zudem aus einer konkreten vegetativen Bildlichkeit hinweg, nicht zuletzt, weil sie durch die Diminutivform eine deutliche Ironisierung erfährt. Scheint uns dies nicht sogar vor allzu symbolischer Auffassung zu warnen?

Ein weiterer Motivfaden, der dem Gedicht, wenn auch mehr im Ton, Kohärenz verleiht, ist der bei Trakl nie zu missende Komplex Tod/Untergang. Von schon besprochenen ‘dunkel’ zu Beginn über den ‘Einsamen’, ‘ersterbend’, ‘Nacht’ bis zu ‘blutet Demut’ und ‘ein brechendes Herz’ ist er zu verfolgen. Allerdings steht dem kontrastierend die schon erwähnte Frühlings- und Vegetationssphäre gegenüber, die bereits in die Nähe mythischer und/oder religiös-christlicher Bilder weist (‘Dorn’, ‘Ölbaum’), aus der die ebenfalls schon besprochenen ‘Odem’ und ‘blutet Demut’ sowie „strahlender Arme Erbarmen umfängt ein brechendes Herz“ als tröstlicher Schluß zu nennen sind.

Als Zwischenfazit ist festzuhalten, daß die motivisch-symbolhafte Betrachtung des kleinen Gedichtes auf den ersten Blick ergiebig scheint, da sie innere, verschlüsselte oder versteckte Zusammenhänge erahnen läßt. Doch ist uns damit das Geheimnisvolle dieser Verse im geringsten gelüftet, wären wir auch nur zu dem Ansatz einer knapp und präzise zu formulierenden Interpretation oder einem rationalen Zugriff befähigt? In der für die vorliegende Arbeit herangezogenen Sekundärliteratur finden sich keine Hilfen, wie das Werk, in welches wir uns verbissen haben, zu verstehen oder wie speziell mit ihm zu verfahren wäre.[27] Bleibt also noch die Untersuchung eines durch die Widmung „für Ludwig von Ficker“ zu vermutenden biographischen Hintergrundes sowie das Nachspüren einer Art von lyrischer Personalität.

Ludwig von Ficker - „Trakls Förderer und väterlicher Freund“[28] - spielte in Trakls kurzem Leben und für seinen dichterischen Nachruhm eine singuläre Rolle: Nämlich daß „Ludwig von Ficker jene Schlüsselstellung gebührt, die Max Brod in der Kafka-Entdeckung und -Deutung innehat.“[29] Selbst wenn es eine uns entgangene oder als Nachfahren unzugängliche Spur, einen Schlüssel in Fickers menschlichem Verhältnis zu Trakl geben sollte: Hätte dies für den Leser heute eine Bewandtnis, da dieses wie alle Gedichte Trakls eine zunächst ihm allein eigene Seelenwirklichkeit in Sprache zu übermitteln sucht, die jedem, der sich darauf einlassen will, eine ebenso eigene Verständniswirklichkeit einzusäen in der Lage ist?

Auch der Hinweis, das Gedicht sei „als Erinnerung an einen stillen, friedvollen Abend“ während eines kurzen Ausfluges Trakls mit Ficker an den Gardasee im Frühjahr 1914 geschrieben[30], bietet für dessen Erklärung keine konkreten Anhaltspunkte. Wir sind via Seelenwirklichkeit bei der Frage nach einer Art von Person, die den neun Versen innewohnen könnte oder sollte, angelangt. Für Ficker oder ein sonstiges Du respektive Gegenüber gibt es aus allem Aufgelisteten, sieht man von einem numinosen, religiös-mythisch-christlich konnotierten Etwas ab, keinen Hinweis. Als Träger eines wörtlich sowieso nicht erwähnten ‘lyrischen Ich’ erregt in erster Linie die Gestalt des ‘Einsamen’ Aufmerksamkeit. Ihm eignet ein Antlitz, das blaue Blümchen umschweben, die dies gleichfalls mit dem goldnen Schritt tun, was wiederum den Einsamen mit jenem Schritt gleichsetzt oder ein ihm wesentliches Akzidens repräsentiert, dessen mögliche Bedeutung schon angesprochen worden ist. Das ‘brechende Herz’ ließe sich, als die in der traditionellen Lyrik wahrscheinlich häufigste Metonymie für ein Selbst, ebenfalls in diese vage Gestalt integrieren, wobei dies dann auch für die sozusagen als Subjekt agierende ‘Demut’ gelten könnte oder müßte, deren Bluten wiederum dem tropfenden Tau durch syntaktische Gleichstellung und Versbau nahegelegt wird. Der andere personale Komplex, gerade noch als ‘numinos’ umrissen, - und was würde zu einem ‘Einsamen’ sonst passen? - ist in den Ausdrücken ‘dunkler Odem’ und „strahlender Arme Erbarmen umfängt...“ - eine ähnlich wie ‘goldner Schritt’ synästhetische oder gar chiffröse pars pro toto Fügung - zu vermuten und zu konkretisieren. Von dem Verdacht, Trakl könnte Ficker schmeichlerisch zu einem gnädigen Vatergott stilisieren, absehend, müßte hier eine überpersönliche Wesenheit gemeint sein, deren Präsenz ebenfalls in den „blauen Blümchen“ anzunehmen wäre, was allerdings auch ein Sticheln gegen selbige einschließen würde.

Die Verwirrung wird komplett, beziehen wir nun endlich den Titel in die Überlegung ein; die ‘gefangene Amsel’ müßte als weitere, sogar besonders hervorgehobene Personifikation respektive Erscheinungsform des vom ‘Einsamen’ ausgehend entworfenen Gezweigs eines potentiellen, hintergründigen lyrischen Ichs fungieren. Oder ist der Einsame beziehungsweise fühlt er sich als eine Amsel? Haben wir uns im Ausspähen nach dem Rettungsanker in Form eines heimlichen lyrischen Ichs zu sehr auf den zur Identifikation reizenden ‘Einsamen’ geworfen, wo die Amsel doch im Titel vorgestellt ist? Bevor ein Einsamer, ein brechendes Herz und weiteres zur Amsel gemacht werden und umgekehrt, muß das Gedicht nach weiteren einer Amsel außer dem Gesang eigenen Merkmalen befragt werden. Die Amsel ist schwarz, die bei Trakl meistgenannte Farbe, die etwa ebenso oft wie ‘dunkel’ verwendet wird[31]. Muß man sie darum nicht, zumindest versuchsweise, einmal mit dem Subjekt des ersten Verses, ‘dunkler Odem’, identifizieren, liegt im ‘grünen Gezweig’ doch der Lebensraum dieser Vögel? Abgesehen davon, daß man Amseln weiterhin im ‘Ölbaum’ und ‘blühenden Dorn’ anzutreffen verlockt ist, stoßen wir einigermaßen deutlich nur im Vers „Aufflattert mit trunkenem Flügel die Nacht“ auf sie.

Die sprachrhythmische Imitation eines Aufflatterns durch die durchgängig, in Gegensatz zum restlichen Gedicht, daktylische Metrisierung des Verses, vor allem aber durch das Voranstellen von ‘aufflattert’ bildet den spontanen sinnlichen Eindruck einer Überraschung nach: Erst nimmt man das Flattern wahr, bevor man bedenkt oder erkennt, was und wie es da flattert.[32] Noch weniger hilfreich zur Eingrenzung lyrischer Personalitäten in diesem Gedicht mag der Hinweis sein, daß Trakl die dargestellte Rhythmisierung von ‘aufflattert’ noch öfter benutzt:

Aufruhr. In verfallener Hütte
Aufflattert mit schwarzen Flügeln die Fäulnis;
Verkrüppelte Birken seufzen im Wind. (S. 52)

Zwar ist eine tendenzielle und assoziative Ähnlichkeit der beiden Stellen zu erkennen, aber wirft dies mehr als nur einen weiteren, bei zunehmender Zahl immer kleineren Facettenblickwinkel auf das zu durchleuchtende Gedicht „Gesang einer gefangenen Amsel“?

Über jeden assoziativen und wissenschaftlichen Deutungsimpetus hinaus ist die Amsel weder ein nachtaktives Tier noch darf vergessen werden, daß es hier, zumindest auch und überwiegend, die Nacht selbst ist, die ‘aufflattert’. Dies wiederum läßt sich metaphorisch als plötzlich hervortretende Angst/Beklemmung/Verdunkelung umreißen oder im Rahmen des Gedichtes als Bedrohung und Vorahnung, vielleicht des Todes, was, wiewohl bei Trakl üblich, bei einem Gedicht der Spätzeit mittels biographischer Deutungsweise bloß als prophetisch zu titulieren wäre. Dazu passen würde die kurze Notiz im Symbollexikon, welche die Amsel im christlichen Bereich als „Versuchung des Fleisches“ und als eine Erscheinungsform des Teufels auffaßt[33], obzwar diesem Vogel ansonsten kaum je Symbolgehalt zugeschrieben wird. Wäre der Tod, ‘das brechende Herz’ in diesem Zusammenhang die Befreiung, Erlösung der ‘gefangenen Amsel’? Würde uns eine solche frömmlerische Monosemierung des an dazu antagonistischen sinnlichen und naturhaften Elementen reichen Gedichtes nicht seinen ästhetischen und assoziativ-intuitiven Reiz verderben?

Sowieso wirft uns das Adjektiv ‘trunken’ vor ‘Flügel’ heftig aus Ornis und asketisierender Religiosität auf den Menschen zurück, so daß gerade diese noch am ehesten mit einer Amsel zusammenbringbare Stelle umso befremdlicher wirkt, will man sie mit der Titelgestalt verbinden; zudem kann ein Flügel nicht trunken sein, bestenfalls noch als pars pro toto einer weiteren Verästelung unseres hypothetischen lyrischen Ichs. Vielleicht ist der assoziative Fingerzeig erlaubt, daß einer trunken aufflatternden Lust zu später Nacht Flügel erwachsen können, was zu Trakls drogen- und alkoholerfüllter Existenz passen würde. Es sei vorweggenommen, daß ein an späterer Stelle dieser Arbeit gestarteter Versuch, das bei Trakl nicht ganz seltene Amsel-Motiv[34] im Kontext des Gesamtwerkes zu eruieren, keine hier erwähnenswerten Aspekte zutage fördern und die Verwirrung abbauen wird.

Doch haben wir die Amsel zuvor schon in den ‘dunklen Odem’ hineindeuten wollen, der, nachdem wir sie nun dem einsamen, demütig blutenden lyrischen Ich untergeordnet haben, zu dessen numinosem Gegenüber gehört und unser Personenschema damit per Angleichung und Verschmelzung kippen würde, was unsere Suche nach personalem Hintergrund ad absurdum führen muß. Zugleich sind die bisherigen Überlegungen und Interpretationsmethoden, die sich an einer künstlichen Trennung respektive Herausschälung von Personalitäten, Symbolmustern und Vereindeutlichung orientierten, genügend ins Absurde hinausspekuliert worden.

Dennoch verbleibt ein Ausweg, um dies änigmatische Gedicht nicht einfach als ausschließlich ästhetischen Genuß beziehungsweise subjektives Deutungs-, Phantasier- und Assoziationsfeld zu belassen, an dem der Pflug literaturwissenschaftlicher Interpretation zerspringt. Muß man hinter ihm nach allem bisher Gesagten nicht einen Dichter voraussetzen, der sich in nicht nur mehr-, sondern schier unendlichdeutiger Weise in die Dinge und Begriffe hineinidentifiziert, ob sie aus der Natur, der Symbolik, Religion/Mythos, dem menschlichen, ethischen, abstrakten Bereich kommen und dabei eine eigene, wahrscheinlich uns wie auch ihm selbst nur durch lyrische Sprache zugängliche Wirklichkeit konstituiert? Unter dieser Fragestellung bietet sich Carl Gustav Jung als Gewährsmann an, der in seinem Aufsatz „Das Grundproblem der gegenwärtigen Psychologie“, welcher vor allem den Stellenwert der seelischen Sphäre behandelt, feststellt: „Psyche ist das allerrealste Wesen, weil es das einzig unmittelbare ist.“[35]

Diese These zu überprüfen muß im Rahmen der vorliegenden Arbeit ebenso vermieden werden wie Trakls Lyrik ihr zu Verifikation dienlich sein kann, ohne unser Beispiel am Ende doch einer allen bisher besprochenen Aspekten genügenden Interpretation zuführen zu wollen. Wäre dies aufgrund der peripheren Stellung von „Gesang einer gefangenen Amsel“ im Gesamtwerk und der sogar für Trakl ungewöhnlichen Viel- und Noch-Mehr-Deutigkeit nicht aussichtslos?

C.G. Jung hat seine ebenso gewagte wie bedenkenswerte These einige Seiten vorher so vorbereitet: „Daß die alte Anschauung der Seele höheres, ja göttliches Wissen zutraut, ist in Anbetracht des Umstandes, daß alte Kulturen, zurück bis in die Primitivität, Träume und Visionen stets als Erkenntnisquelle benützt haben, wohl zu verstehen.“[36]

Da wir auf das Motiv ‘Traum’ bei Trakl noch zu sprechen kommen wollen und Vision in diesem Zusammenhang als Gesicht eines Einzelnen, das anderen ohne Vermittlung verborgen bleibt, zu begreifen ist, läßt sich das Gedicht als Ausdruck zumindest eines Segmentes einer Seelenwirklichkeit auffassen, der wir uns annähern können und dürfen. Vor allem aber ist unter Hinzuziehung dieser Erkenntnis Jungs das für Logik und Interpretationsmodelle kaum beschreibbare Problem der lyrischen Person oder der Personen aufgehoben: Lyrisches Ich und die mangels eines treffenderen Begriffes als ‘numinos’ bezeichnete Person fallen weg und ineins. Die Bestätigung liefert wieder Jung, wenn er den großen Anteil des Unterbewußten an der Seele ermessen will: „Auch scheint dieser kollektive Mensch keine Person zu sein, sondern etwas wie ein unendlicher Strom oder vielleicht ein Meer von Bildern und Formen, die uns gelegentlich im Traum oder in abnormen geistigen Zuständen zum Bewußtsein kommen.“[37]

Markanterweise diente uns das Bild des Flusses bereits bei der Untersuchung von „Abendmuse“. Daß vorzugsweise ein Dichter wie Trakl durch geistige Zustände, ob psychodelisch oder pathologisch, vermittels Strömen in Formen und Bildern zum Bewußtsein zu gelangen vermag, ist evident. Mag es seelische Wirklichkeit, Identifikation, vereinnahmende Durchdringung, mehr oder weniger Zu-Bewußtsein-Strömen heißen: Evoziert „Gesang der gefangenen Amsel“ nicht eben dieses Darinsein in Pflanzen, Tier, Mensch, ‘strahlender Arme Erbarmen’, ‘brechendem Herz’, ‘Demut’, ‘Tau’, dem ‘Einsamen’, dem ‘goldnen Schritt’ etc.? Zusammen mit der oben schon als eminent erkannten lyrischen Musik des Gedichtes, dem schmiegsamen Rhythmus, dem Vokalismus z.B. im Titel, liegenden die verbindenden Elemente vor, die viel wichtiger und konstituierender sind als alle Ansätze zu rationaler Durchdringung und Festschreibung. Über das Musikalische als hochgradig wesenhaften Teil und Grundlage von Mehrdeutigkeit in Trakls Werk wird noch ausführlicher zu sprechen sein. Vorweg soviel: Wenn der bereits zitierte Mahrholdt auf diese Lyrik zurückblickend bemerkt: „Klang und Sinn standen in stetiger Wechselbeziehung“[38], muß diese für viele Lyriker geltende These in unserem Fall radikalisiert werden: Klang ist ein wesentlicher Teil des Sinnes und kein ästhetisiertes Wortgeklingel, speziell wenn wir ‘Sinn’ nicht nur abstrakt, sondern auch als ‘sinnlich’ auffassen. „Dinge, Wesen, Begriffe, die in der Realität längst auseinandergetreten sind, werden in Beziehung zueinander gebracht. Im Klang finden sie sich wieder zusammen; eine mystische Einheit wird wieder hergestellt.“[39] Trakl hat dies in Worten Ereignis werden lassen, weshalb wir unsererseits versuchen können, darin mitzuströmen, ob zu einer Deutung gelangend oder nicht.

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Fußnoten:

[15] Mahrholdt, Erwin: Der Mensch und Dichter Georg Trakl; in: Erinnerung an Georg Trakl, S. 83
[16] Lurker, Manfred: Wörterbuch der Symbolik, S. 115
[17] Hölderlin, Friedrich: Werke und Briefe, Band 1, S. 47 f.
[18] Robert Ranke-Graves verweist in „Die Weiße Göttin“, S. 75 auf Herman Melville, der „ein ganzes Kapitel seines Moby Dick der wortreichen Erörterung der widersprüchlichen Empfindungen, die das Wort ‘weiß’ auslöst“, widmet. Auch mit der unter 3.1.3 zitierten Auffassung Heideggers läßt sich dies bestätigen.
[19] Vgl. Ranke-Graves: Griechische Mythologie, S. 188 f.
[20] Ranke-Graves: Die Weiße Göttin, S. 164
[21] Mahrholdt: Der Mensch und Dichter Georg Trakl, S. 54
[22] vgl. Cooper, J. C.: Illustriertes Lexikon der traditionellen Symbole, S. 65 f.
[23] Lurker: Wörterbuch der Symbolik, S. 253
[24] vgl. Lurker: Wörterbuch der Symbolik, S. 533 f. und Cooper: Lexikon der Symbole, S. 131 (unter dem Stichwort „Olive“)
[25] Hölderlin: Werke und Briefe, Band 1, S. 47 f.
[26] Diese ist auch in der zweiten der drei Fassungen des nachgelassenen Gedichtes „An Novalis“ (S. 182 f.) genannt, allerdings ohne ironisierenden Beiklang.
[27] Heideggers (Trakl. Eine Erörterung..., S. 77) einseitige Identifikation der Amsel mit dem ‘Einsamen’ und der Verweis auf ihre Verbundenheit mit der Elis-Gestalt liefert keine neuen Gesichtspunkte. Eduard Lachmanns (Kreuz und Abend, S. 38 f.) christliches Zurechtstutzen als „Vision der Gethsemane-Nacht“ wirkt umso befremdlicher, wenn er selbst anschließend Trakls Bilder als „ambivalent, vorrational und mehrdeutig“ charakterisiert. Widersprüchlich sind auch Erich Neumanns (Georg Trakl - Person und Mythos, S. 246-249) Ausführungen; einerseits deutet er die Amsel als „Seelenvogel des Mythos, des Traums und des Märchens“,  was zu belegen er unterläßt, andererseits entdeckt er ebenfalls eine „Paraphrase des am Ölberg sein Schicksal annehmenden Jesus“. Wenn er den Begriff „seelische Wirklichkeit“ wegen des Erhaltenbleibens „der Diesseitigkeit jedes einzelnen Details“ „ein Wesentliches verfehlen“ sieht, unterstellt er die absurde These, diese beiden Bereiche seien völlig separiert.
[28] Basil: Trakl, S. 7
[29] Basil: Trakl, S. 12
[30] vgl. Basil: Trakl, S. 142
[31] Vgl. die Häufigkeitsliste in Wetzel, Heinz: Konkordanz, S. 813 ff.
[32] Vgl. Hellmich, Albert: Klang und Erlösung, S. 118 f.: „Diese Bildungen (...) las­sen sich leichter deuten, wenn sie als bewußte rhythmische Fügungen verstanden werden (...).“
[33] Cooper: Lexikon der Symbole, S. 12. In Lurkers „Wörterbuch der Symbolik“ sowie in Ranke-Graves die Mythologie betreffenden Werken wird die Amsel nicht erwähnt.
[34] laut Wetzel: Konkordanz, S. 813 ff. taucht sie neunzehn Mal in Trakls dichterischem Werk auf.
[35] Jung, Carl Gustav: Wirklichkeit der Seele, S 22
[36] Jung: Wirklichkeit der Seele, S 18
[37] Jung: Wirklichkeit der Seele, S 19
[38] Mahrholdt: Der Mensch und Dichter Georg Trakl, S. 77
[39] Hellmich: Klang und Erlösung, S. 91

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