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3. Elemente der Mehrdeutigkeit 3.0 Vorbemerkung Nachdem sozusagen en passent deutlich geworden sein dürfte, wie sehr die Mehrdeutigkeit für Trakls Dichten sowohl unverzichtbar als auch konstituierend ist, soll sie nun in einigen Querschnitten und nicht mehr nur an herausgegriffenen lyrischen Exempeln verfolgt werden. Selbstverständlich stellen diese Querschnitte eine Auswahl von Aspekten und Motiven dar; diese alle oder auch nur Einzelne vollständig zu untersuchen, würde nicht nur den hier gegebenen Rahmen, sondern auch jede Verhältnismäßigkeit sprengen und zu einem amorphen Datenhaufen führen, der literaturwissenschaftlich kaum verwertbar wäre. Die die Auswahl bestimmenden Kriterien sind also zunächst durch das Weiterspinnen der bei der Besprechung des Gedichtes „Abendmuse“ und „Gesang einer gefangenen Amsel“ gefundenen Fäden bestimmt wie auch durch das Herausgreifen von bei Trakl auffälligen Bedeutungs- und Symbolkomplexen, was notwendig einen subjektiven - durch Stringenz der Abhandlung und intuitives Angesprochensein zu beschreibenden - Faktor impliziert. Doch ist eine solche Herangehensweise ohnehin, ob vor oder nach literaturwissenschaftlicher Analyse, nicht vermeidbar, da sich Trakls Poesie diesen Methoden vielfach verweigert und sie zu der Gefahr des „progressus ad infinitum“ gereichen. Wir dürfen hoffen, mit diesem Verfahren und der dergestalt vorgenommenen Auswahl sowohl im Sinne Trakls als auch der Geschlossenheit und Abrundung des vorliegenden Projektes zu handeln. Den Einstieg in die nun zu verfolgenden Arten und Erscheinungsweisen von Mehrdeutigkeit soll das Einfachste und Naheliegendste bilden: die in Trakls Dichtung häufigen und für sie charakteristischen Wörter. Zudem folgen wir damit dem profunden Trakl-Kenner Walther Killy, wenn er für die moderne Dichtung allgemein empfiehlt: „Um sie zu verstehen, muß man sich erst die Vokabeln erwerben.“[40] |
3.1.1 Trakls Lieblingswörter Würde man das für Trakls Dichten und seinen Ton typische mit zwei Wörtern auszudrücken gezwungen sein, sie müßten ‘Herbst’ und ‘Abend’ lauten. Eine statistische Tabelle der Worthäufigkeit mag dies bestätigen[41], doch schwingt in diesen Wörtern so vieles mit, was Trakl eigen, seiner Grundgestimmtheit gemäß ist und auf die meisten seiner Inhalte und Aussagen, so vieldeutig und in einigerlei Hinsicht unfaßbar sie sein mögen, bezogen sein kann. Sogar das Antonym Frühling kann bei ihm, wie in der Anfangsstrophe des Gedichtes „Heiterer Frühling“, herbstlich durchdrungen sein:
Doch sollen hier nicht Verständnismöglichkeiten, die der Gesamtkontext des Werkes denotieren könnte, sondern nur auf die Wörter oder Motive bezogene erörtert werden. In dieser Hinsicht haben Herbst und Abend schon als solche viele Gemeinsamkeiten: Setzt man die vier Tages- und Jahreszeiten parallel, stehen sie an der gleichen Stelle[42]. Insbesondere jedoch sind beide Zeiten des Übergangs, des Zwielichts, des Dämmerns und Dunkelns, womit schon weitere bei Trakl ebenfalls häufige Vokabeln in den Blickpunkt rücken. Herbst und Abend sind zwiedeutig, indem sie ebenso auf Sommer und Mittag zurück wie auf Winter und Nacht voraus deuten, was an die bei Trakls ebenfalls typischen Sujets von Ernte und Fruchtbarkeit (s. 2.1: „Abendmuse“) sowie auf der anderen Seite an Zerfall und Tod gemahnt. Ihre Koinzidenz erweist sich nicht zuletzt durch ihr gelegentlich gemeinsames Erscheinen: |
Auffällig an diesen beiden Versen ist die Verbindung mit ‘Gehen’, also einem dynamischen Akt, der recht wenig auf üblicherweise konnotierte Zustände wie Stille und Ruhe zu passen scheint, was mit den Zeiten des Übergangs korrespondiert. Zwar lassen sich auch Belege für eher statische Anschauungen von Herbst und Abend finden:
Allerdings stellen diese Verse innerhalb ihrer Gedichte „Abendländisches Lied“ und „Winkel im Wald“ eher episodische Oasen der Ruhe und Geborgenheit dar. Ansonsten sind in Trakls Werk Herbst/Abend mit Bewegung, ja oftmals sogar einer Art von Aufbruch ungleich häufiger verbunden:
Das letzte Beispiel entstammt dem „Herbstseele“ betitelten Gedicht, das auch als Ganzes einen rastlos-getriebenen Eindruck vermittelt. Folgender Satz formuliert die häufigste Einstellung Trakls zu den besprochenen Wörtern: „Aber mit dem Abend, dem zur Endzeit gehörenden Herbst des Tages, beginnt die ‘eigentliche’ und große Welt, die Nachtwelt, aus der die dunkel leuchtenden Farben und Klänge der Traklschen Dichtung und der Zauber seiner farbigen Süchte stammen.“[44] Das in den bisherigen Zitaten mehrfach auftauchende ‘dunkel’ ist das mit Abstand häufigste Adjektiv bei Trakl. Es umschreibt - wir dürfen bei seiner ständigen Anwesenheit wohl auch sagen: umlautet - den so eminenten Bereich von Herbst und Abend, der, wie schon dieser flüchtige Blick beweist, jedoch keineswegs konventionell gestimmt oder auch nur auf die grundsätzliche Zwiedeutigkeit dieser Motive beruhend behandelt ist. Die Vieldeutigkeit des Wortes ‘dunkel’ (in „wandert ein Dunkles“, S. 69, erscheint es sogar als Personifikation, also vermenschlicht oder zumindest beseelt: eine der noch zu diskutierenden Formen der Auflösung des lyrischen Ichs ) ist so evident und prägnant zu formulieren: Durch seinen Klang, seine Metaphern- und Symbolträchtigkeit, sein Assonieren mit allen hier erwähnten und weiteren Traklschen Lieblingswörtern in Ton und Empfindung, seinen gewissermaßen ostinaten Baß im Gesamtwerk - welcher es uns als Stimme der später zu besprechenden lyrischen Musik heraushören läßt - seine ihm innewohnende verschleiernde Unendlichkeit prädestiniert es zu Trakls multideutigstem und Haupt-Adjektiv. Dies bestätigt und ergänzt Walther Killy, wenn er gleich zu Beginn seiner Schriften über Trakl konstatiert: „Die Sprache dieses Dichters ist dunkel.“[45] Kongruent zu ‘dunkel’, ‘Abend’ und ‘Herbst’ tritt, diesen lexikalischen Bereich ergänzend, ‘Dämmerung’ /‘dämmern’ auf, was ohne Kontext sowohl dem Morgen als auch dem Abend zugehörig sein könnte. Obwohl dieses Wort, wie bei Trakl nicht anders zu erwarten, großteils mit Abend/Herbst kombiniert ist, gibt es auch Belege für das zweite Vorkommen von „dämmern“, nämlich in der schon zitierten Stelle aus dem Gedicht „Siebengesang des Todes“ („Bläulich dämmert Frühling...“, S. 69), wobei die harte Konfrontation von Abend/Untergang mit Frühling auffällt. Ein weiteres, in den bisher besprochenen Bild- und Tonkreis integrierbares und bei Trakl oft anzutreffendes Wort ist ‘Verfall/verfallen’, das auch ohne oder mit dem Präfix ‘zer’ vielfach variiert wird. Ihm gehören grundsätzlich zwei Bedeutungen zu: daß etwas/jemand verfällt oder das etwas/jemand an etwas verfällt. Beide Möglichkeiten sind manchmal auf jeweils eine bestimmte Stelle zu beziehen:
Durch die morbide Atmosphäre des Gedichtes „Die junge Magd“, dem diese Strophe entstammt, ist bei ‘Verfall’ ebenso an Zerbröckeln und Vergänglichkeit wie an den anderen Wortinhalt zu denken, nämlich daß das sich neigende Gras der Magd und diese an etwas Ungenanntes verfallen sein kann, was durch den zweiten Vers der vorvorherigen Strophe angedeutet ist:
Nur nebenbei sei bemerkt, daß in Dämmern hier, zusätzlich zum oben Gesagten - in diesem Gedichtteil bleibt ebenfalls die Tageszeit unbestimmt - die Nebenbedeutung ‘etwas ahnen/verstehen’ mitschwingt. Was ‘verfallen’ betrifft, so ist, besonders beim Gebrauch als Adjektiv und Verb, meistens durch die Syntax und die Zuordnung zu Nomen wie ‘Haus’, ‘Mauer’, oder ‘Marmor’ die Bezugnahme auf Auflösung/Vergehen nahegelegt. Indessen kann, ja muß meist die andere Bedeutung, wenn auch nicht stets gleich gewichtet, mitgehört werden, um die Vielschichtigkeit und Tiefe Trakls erspüren zu können.
Diese erste Strophe von „Herbst des Einsamen“, die nochmals viele Wörter des besprochenen Bild- und Tonkreises vereint, zeigt, daß die ‘Hülle’ nicht nur zerbröckeln muß, um ‘ein reines Blau’ hervortreten lassen zu können (dessen komplexer, neben Anderem Liebe und Numinoses tragender Symbolgehalt bei Trakl nur kurz und vermittels des Heidegger-Zitates weiter unten umrissen werden kann). Die ‘Hülle’ muß auch dem ‘Herbst’ - dessen oben beschriebene Aufbruchsstimmung z.B. auch Voraussetzung aller unterschiedlichen Sphären von „Abendmuse“ lieferte - , den ‘alten Sagen’, dem ‘Wien’, vielleicht überhaupt der harmonischen Gestimmtheit dieser Strophe verfallen sein, um ‘ein reines Blau’ hervortreten lassen zu können. Kurz sei noch auf die Vieldeutigkeit anderer für Trakl charakteristischer Wörter hingedeutet. ‘Traum’ vermag von Wunschbild/Ideal bis zu Nacht- und Alptraum sehr vieles zu bezeichnen, besonders, wenn man noch die mannigfaltigen Metapher- und Symbolkomponenten in diesem Wort berücksichtigt. Ausgehend von ‘Traum’ ließe sich ein ähnlicher, nächtlich-überwirklicher, visionärer und innerhalb des Gesamtwerkes kaum zu überschätzender Bild- und Tonkreis umschreiben. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die erste und letzte Strophe von Abendmuse. Es genügt hier jedoch, noch auf die Möglichkeit hinzuweisen, daß durch ihre akausale, unvermittelte und phantasmagorische Bildlichkeit „in Trakls Dichtung die verbergende Sprache des Traums restituiert worden ist“[46]. Zu nennen bietet sich noch das an sich polyseme ‘Blut’ (gleiches gilt für das im folgenden Zitat angeführte, bei Trakl ebenfalls nicht seltene ‘Geschlecht’[47]) an: „Für Trakl scheint Blut ‘ein ganz besonderer Saft’ gewesen zu sein. Blut war das Medium, das ihn mit der angestammten Sippe, mit der Ahnenwelt, mit dem ganzen Geschlecht verband - nichts Physiologisches haftet hier diesem Begriff an, eher etwas von den Manipulationen alter magischer Zeiten. Das Wort Blut kehrt in seinen Phantasien auffällig häufig wieder, es wird jedesmal mit großer Schwerkraft gebraucht (...).“[48] Und welche für die üblichen Anschauungen schier widersinnige Polysemie gewinnt der Begriff ‘Schmerz’, wenn es heißt:
Um schlaglichtartig die Wichtigkeit der Schmerzerfahrung für Trakl bewußt zu machen, soll folgender Satz von Heidegger dienen: „So bleibt der Schmerz als der Grundzug der großen Seele die reine Entsprechung zur Heiligkeit der Bläue.“[49] Durch diese noch mannigfaltig ergänzbare Auflistung ist demonstriert, wie sehr die hier angeführten Wörter, schon für sich genommen, vieldeutig sind. Auf ihren oft metaphorisch-symbolischen Einsatz im allgemeinen Sprachgebrauch brauchte nur ergänzend verwiesen, nicht aber näher eingegangen zu werden. Doch liefert Trakls Fundus an Lieblingswörtern nur den kleineren, sprachgegebenen Anteil an der Mehrdeutigkeit seiner Poesie. Diese multipliziert sich nämlich nochmals, bedenken wir, „ daß das Wort in der Dichtung Trakls kein statisches und einfach verrechenbares Fixum ist, daß ihm eine Dynamik innewohnt, die zwar auf den ersten Blick nicht sichtbar, latent aber vorhanden ist“[50]. Dieser Grundfaktor, der Mehrdeutigkeit erstaltet und lyrische Gestalt sich bilden läßt, - der eben zitierte Eckhard Philipp konstatiert: „Das Gesamt der Stellen übt (...) einen gesetzlichen Zwang aus auf die Betrachtung des Wortes in nur einem Gedicht“[51] - soll nun am Beispiel der ‘Amsel exemplifiziert werden. |
Wie bereits beim Interpretationsversuch von „Gesang einer gefangenen Amsel“ erwähnt, taucht die Amsel an neunzehn Stellen, worunter auch Mehrfachfassungen fallen, in Trakls poetischem Oeuvre auf; ‘Amselruf’ kommt dreimal vor. Innerhalb eines Titels tritt sie nur dieses eine Mal im Gesamtwerk auf, was ansonsten unter den Vögeln nur noch „Die Raben“ (S. 7) auszeichnet. Zumindest auf den ersten Blick taucht die Amsel bei Trakl ausschließlich als akustisches Phänomen, das ‘lauschend’ und per ‘Ohr’ verfolgt wird, wenn sie traurige, erschrockene Rufe und Schreie abgibt, flötet, schlägt, singt, musiziert und klagt. Letzteres wird ihr am häufigsten zugeschrieben:
Meist steht das Bild, besser gesagt: stehen die Laute der Amsel zumindest äußerlich unverbunden im Gedicht, was uns bei Trakl allerdings nicht überraschen muß. Der Vers „Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen“ unterscheidet sich davon insofern, daß die ersten beiden Strophen seines Gedichtes „Verfall“ unter dem Motto stehen: „Folg ich der Vögel wundervollen Flügen“ sowie „Träum ich nach ihren helleren Geschicken“, womit - selten eindeutig und sogar aus der Perspektive eines lyrischen Ichs - die Zugvögel im Herbst gemeint sind. Die Amsel als ortstreuer Vogel fungiert somit als Identifikationsfigur dieses Ichs, auf jeden Fall hat sie das Ausgeliefertsein an Kälte und Einsamkeit des nahenden Winters mit ihm gemein. |
Ansonsten erscheint ihr Bild, dem mangels symbolisch-metaphorischen Ambientes
(wie bereits unter 2.2 erläutert) kaum Uneigentlichkeit abzugewinnen ist,
als Malerei der Laute. Dies ist in doppelter Hinsicht zu verstehen.
Über den notwendig subjektiven Empfindungswert des realen Amselgesanges sowie dessen bildlich-klangliche Äquivalenz im Gedicht kann hier nicht diskutiert werden. Jedenfalls ist den Amsellauten oder ihrem Verstummen in Trakls Versen ein Signalcharakter eigen, sie lassen aufhorchen und ihnen wird, wie schon gesagt, gefolgt. Dies bestätigt sich - außer insbesondere bei „Elis“, von dem gleich zu sprechen sein wird - an weiteren Beispielen (wobei letzteres aus dem ‘Dramenfragment’ das Erwecken aus einem vorher geschilderten Traum meint):
Daß Amsellautäußerungen auch völlig als Musik gehört werden können, belegt eine weitere Stelle:
Doch könnte die relativ häufige Nennung dieses Vogels auch anders als nur durch seine für den Dichter signalhaften - dies zumindest zweideutig bezüglich Stimme und Stimmung - Rufe begründet sein, nämlich durch seine Farbe und den Klang des ihn bezeichnenden Wortes. Die zweite Hinsicht der eben angeführten Klangmalerei zeigt sich nämlich im auffälligen Vokalismus mit ‘a’ sowie in den mit demselben gebildeten Diphthongen bei allen Amsel-Belegstellen. Es muß uns auffallen, daß ‘schwarz’ als das zweithäufigste Adjektiv nach ‘dunkel’ niemals als Attribut der Amsel dient, sondern diese in auf ‘a’ klingende Wortreihen eingefügt ist. Vielleicht war Trakl die ausdrückliche Nennung von ‘schwarz’ bei der Amsel überflüssig, weil ihm durch Synästhesie und die musikalische Struktur um sein Amsel-Motiv und das hier einmal zu implizierende „Vokale“-Sonett seines Vorbildes Rimbaud ‘schwarz’ präsent genug erschien:
Um von dieser musikalisch-synästhetischen wieder auf die - davon aufgrund des hier Gesagten nicht mehr scharf zu trennenden - Ebene des Bild- und Inhaltszusammenhanges zurückzukehren: Im folgenden Beispiel aus „An den Knaben Elis“ kulminieren etliche bisher dargestellten Aspekte.
In allen Fassungen des Gedichtes gleichlautend, bringt die Strophe den Signalcharakter des Amselrufes - ‘Ruf’ darf sowohl als pure Lautäußerung wie auch als Appell, An-, Auf-, Ab- und Zu-Ruf verstanden werden - zum Ausdruck, wobei das ‘wenn’ im ersten Vers temporal und/oder ursächlich verstehbar ist. Schwarz, die Farbe des ‘a’ (‘Amsel im schwarzen Wald’), steht hier, wenn auch nicht grammatikalisch als Attribut, so doch zumindest in der Nähe der ‘Amsel’. Schließlich ist der ‘Untergang’, den die Amsel an-/herbeiruft oder gar bedingt, allemal Anlaß zum mit der Amsel so oft verbundenen ‘klagen’, auch wenn es an dieser Stelle nicht expliziert ist; ‘klagen’ wäre hier mehr in der Bedeutung be-klagen zu fassen als in der, anderweitig ebenfalls mit einzubeziehenden - von an-klagen. Obwohl er sich in diesem Kontext anzubieten scheint, übertreibt der Ansatz Schünemanns: „Nicht nur der Wald, auch die Amsel ist schwarz, die Unheilsdrohung, die im ‘Kaspar Hauser Lied’ der ‘Schwarzvogel’ geheißen wird: ein Totenvogel.“[53] Mag dieses - allzu vereinheitlichende, den polysemen Reiz der Dichtung destruierende - Diktum durch folgenden Vers bestätigt wirken:
so wird es durch die meisten der vorher aufgelisteten Belegstellen kaum verifizierbar sein. Mit diesem Vers ist eher, anscheinend ironisierend, auf den später ausführlich zu behandelnden Aspekt der Nähe von Tod und Leben angespielt. Zudem existiert auch der folgende Vers:
Nicht zuletzt ist der mit der Amsel in Beziehung gesetzte ‘Untergang’ keinesfalls mit ‘Tod’ gleichzusetzen. ‘Untergang’ ließe sich bei der Besprechung von mehrdeutigen Wörtern im vorangegangenen Kapitel ergänzen. Daß keineswegs der konventionelle Wortgehalt - Vernichtung/Ruin - exklusiv einsetzbar wäre, können die Schlußverse des „Untergang“ betitelten Gedichtes illustrieren:
Wenn dies einen, mechanisch-abstrakt entworfenen, schmerzhaften Kulminationspunkt von „Untergang“ - signifikant ist die Gegenläufigkeit der Präposition ‘unter’ und des Prädikates ‘klimmen’ - kennzeichnen will oder würde, so impliziert die mitternächtliche Geisterstunde stets neben Bedrohung und dem Untergang des alten Tages auch einen Wendepunkt, der den Beginn eines neuen Zyklus’ markiert. Dies ergänzend gebührt ‘Untergang’ eine Sonderstellung wegen des veränderten Gewichtes und der zusätzlichen Besetzung, die ihm mit - dem Trakl wohlbekannten - Nietzsche in der Vorrede von „Also sprach Zarathustra“ zugeflossen ist: „Dazu muß ich in die Tiefe steigen: wie du des Abends
tust, wenn du hinter das Meer gehst und noch der Unterwelt Licht bringst,
du überreiches Gestirn!“[54] Wiewohl diese Zitate nur in geringerem Maße auf Trakls Verständnis anwendbar scheinen, fällt doch auf, daß auch Heidegger, wenn er die Umdeutung von ‘Untergang’ bestätigt, auf die Bahn der Sonne referiert. Er fragt nach dem Weg des ‘Fremden’, ‘Abgeschiedenen’ (solche Bezeichnungen werden später bei der Erörterung des aufgelösten lyrischen Ichs ins Blickfeld rücken): „Wohin ist ein Fremdes gerufen? In den Untergang. (...) Wenn solche Neige durch das Zerstörende des nahenden Winters, des Novembers, hindurch muß, dann bedeutet jenes Sichverlieren gleichwohl nicht das Wegfallen in das Haltlose und in die Vernichtung.“[56] Doch sind wir indessen bei einem Vorausgriff auf die später zu leistende genauere Untersuchung der ‘Elis’-Figur gelandet. Zur Abrundung soll noch der ‘Schwarzvogel’ aus dem „Kaspar Hauser Lied“ zur Sprache kommen:
Er kann in diesem Gedicht tatsächlich - auch - als ein Vorbote des Todes oder Mörders aufgefaßt werden, obwohl er in der ersten, von natur-ergriffener ‘Freude’ erfüllten Strophe zu finden ist. Gleichwohl er auch mit den anfangs des Kapitels erwähnten ‘Raben’ zusammengebracht werden könnte - denen allerdings ‘singen’ kaum anstände - , darf er durchaus als Amsel interpretiert werden, zumal er problemlos in die Aspekte unseres Zusammenhanges integrierbar ist, ohne dabei platt monosemiert zu werden. Es darf uns am Ende dieser Überlegungen nicht überraschen, vor allem aber nicht enttäuschen, daß wir keine eindeutige Bestimmung, keine für ‘Amsel’ jederzeit einsetzbare Bedeutung gefunden haben. An diesem Beispiel sollte klar geworden sein, daß dies dem Wesen der Poesie, der wir uns zu nähern versuchen, widerspricht und sie sich dergleichen, wie auch an anderen Stellen bemerkt, verweigert. Ganz allgemein läßt sich zu Trakls Motiven nämlich nicht behaupten, „daß bei der Nennung eines Wortes die gesamten Bedeutungsmöglichkeiten jedesmal mitintendiert sind. Vielmehr wird durch die inhaltliche Offenheit der Zeichen ermöglicht, daß bei der leisesten Berührung des Gemüts ganz spezielle, von Gedicht zu Gedicht wechselnde Bedeutungskomponenten aktualisiert werden können (...).“[57] Lassen wir die Amsel also stehen, wie sie jeweils erscheint: als Identifikations- und Signalgestalt, vor allem jedoch als Gesang, der aufhorchen läßt und vielfältig bedeutsam sein kann, aber nicht muß. „Ließe man die offenen Räume nicht bestehen und forderte zuviel ‘Genauigkeit’ vom Dichter oder vom Interpreten, so wären die Chiffren nicht mehr imstande, alle diese Bereiche einander anzuverwandeln.“[58] Nebenbei bemerkt, würde es unserem Verständnisweg kaum mehr auf die Sprünge helfen, das Problem auszudiskutieren, ob Trakls hermetische, aus sich selbst zu erspürende Bildlichkeit noch aus Symbolen oder schon aus Chiffren aufgebaut ist. Mit der so gewonnenen - ebenso bescheidenen wie bei diesen Texten angebrachten - Anschauung sollen nun die für Trakl so bedeutsamen Farben betrachtet werden. |
3.1.3 Farben als Sammelbecken von Bedeutungen So auffällig und charakteristisch der Traklsche Gebrauch der Farbwörter ist, so umfangreich sind auch die Überlegungen, welche die Sekundärliteratur zu diesem Thema angestellt hat. Da in der vorliegenden Abhandlung Farben nur peripher als Faktoren der und in ihrer Mehrdeutigkeit von Interesse sind, sollen sie zunächst vermittels einiger treffender und diskussionswürdiger Thesen aus der Literatur zu Trakl dargestellt werden. Ein umfassender oder erschöpfender Forschungsbericht kann allerdings nicht vorgelegt werden, zumal die Zusammenstellung unter der Prämisse des gestaltbildenden Elementes Mehrdeutigkeit zu erfolgen hatte. Durch ihre Häufigkeit und die sie in den Vordergrund rückende Manier ihres Einsatzes sind wir den vieldeutigen respektive unausdeutbaren Farbworten bereits mehrfach begegnet. Nicht nur auf sie bezogen spricht Eckhard Philipp aus, was unsere bisherige Beschäftigung mit Trakl wieder und wieder aufgeworfen hat: „Der noch immer anzutreffende Glaube, einzelne Bilder der Dichtung Trakls könne man auf evozierende und formelhafte Verknappungen reduzieren, beruht auf der Einsichtslosigkeit, daß die evozierende Leistung des Wortes Stabilität der Bedeutung voraussetzt, die doch in den Gedichten Trakls zunächst fraglich ist.“[59] Eine ähnliche Aussage trifft Bolli, wenngleich deren Herleitung nicht tragfähig erscheint: „Wenn Farben bei Trakl Träger von unmittelbarer Stimmung sind, ist keine Bedeutungskonstanz zu erwarten (...).“[60] Zwei weitere Thesen Philipps sind so zutreffend wie - im Nachhinein z.B. für einige der Lieblingswörter unter 3.1.1 - aufschlußreich, daß sie mit vorangestellt sein sollen: „Das Farbwort strebt zu anderem, an dem es sich verdeutlichen kann, wobei eben die sachliche Hinwendung zum Substantiv entfällt. Ein Beleg dafür ist die Tatsache, daß bei Trakl die heterogensten Farbwörter zu einem Substantiv treten können, so daß das Farbwort gar nichts festhalten kann, was nur am Ding selber zu finden wäre.“[61] - „Geht man von einer Ganzheitsbetrachtung der Gedichte Trakls aus, dann läßt sich sagen, daß die Farbe als Fassung eines Eindrucks den Realitätsgehalt der Dinge usurpiert, gerade auch durch die Verschiedenheit der Farbprädikationen, die ein und demselben Ding zugeordnet werden. Das Ding verschwindet in seiner Eigentlichkeit.“[62] |
Manche dieser Aussagen gründen auf Killy, der die Farben in ähnlich allgemeiner wie unvereinnahmender Weise versteht: „Aber der Eindruck geht nicht allein von ihrem Sein aus, sondern von dem, was hinzukommt - Farben meist, sinnliche Fühlbarkeiten, die mächtiger und umfassender als das Ding sind und es in Anonymität zurückweisen, einem Größeren, ganz Ungreifbaren zuordnen.“[63] Noch schärfer formuliert Hermann Schreiber das Übergewicht der Farben über das Konkretum oder Abstraktum, an dem sie im Gedicht gesehen oder auf das sie projiziert werden: „Da es allenfalls noch rote Kähne, keinesfalls aber silberne Hände und blaue Tiere gibt, liegt der Akzent in solchen Stellen ganz eindeutig auf der Farbe und ihrem Stimmungswert.“[64] - „(...) aus dem Beiwort wurde die Dominante, die nun ihrerseits des Beiwortes bedarf. Wendungen ungewöhnlichster Art kommen so zustande: blaue Seele, weiße Traurigkeit, schwarze Novemberzerstörung, blaue Klage, blaues Orgelgeleier, rosige Seufzer; Stille ist blau, hyazinthen oder rot, Verwesung grün oder schwarz.“[65] Festzuhalten bleibt für unseren Zusammenhang, daß unterschiedliche Farben ein und demselben Ding, sei es ein tatsächlicher Gegenstand oder ein Abstraktum, Geschehen oder Geräusch, zugeordnet sind, was die Verständnismöglichkeiten bezüglich Symbolik und Assoziation potenziert, zumal die oftmalige, wenn auch nicht ausschließliche Wirklichkeitsferne der Farbattribute auffällt. Wenigstens ein Beleg für einen völlig dem üblichen entsprechenden Gebrauch von Farben soll ergänzend genannt sein:
Doch bleibt ihr irritierender, wie andernorts bereits gesagt manchmal auch per Substantivierung personifizierter oder verabsolutierter Einsatz eher die Regel. Hier auf, sich vielleicht in Trakls Zeitgenossenschaft anbietende, Einflüsse aus der bildenden Kunst einzugehen, ist durch eine weitere Feststellung Philipps abgeraten: „Was Trakl betrifft, so ist nicht sicher, welche Maler er gekannt hat. Überhaupt ist nicht ausgemacht, ob eine Anregung zur Verwendung der Farbadjektive von der Malerei ausging. (...) Trakl hat sich - anders als Heym - nie über Malerei geäußert.“[66] Der Einfachheit halber und weil es mit unserem Konzept ‘Sammelbecken von Bedeutungen’ koinzidiert, sollen nun die wichtigsten Farben in ihren durch Sekundärliteratur zu Trakl und Symbolik zuschreibbaren Bedeutungen, ohne diese damit als letztgültige deklarieren zu wollen, zusammengefaßt sein. Ebenso knapp wie sprachlich dicht umreißt Heidegger die Bedeutungsweite der Farben: „‘Grün’ ist verwesend und erblühend, ‘weiß’ ist bleich und rein, ‘schwarz’ ist finster verschließend und dunkel bergend, ‘rot’ ist purpurn fleischig und rosig sanft. ‘Silbern’ ist die Blässe des Todes und das Gefunkel der Sterne. ‘Gold’ ist der Glanz des Wahren und das ‘gräßliche Lachen des Golds’.“[67] Das hier ausgesparte ‘blau’ umschreibt er, wie schon unter 3.1.1 angeführt, mit „Heiligkeit der Bläue“, was, so großteils zutreffend es sein mag, der weiten, polaren Eingrenzung, die einen Kern von Trakls Farbverständnis trifft, dieser Liste nicht zu entsprechen vermag. Um einen Moment bei ‘blau’ zu verweilen[68], soll nochmals Philipp zitiert sein, wobei vorwegzunehmen ist, daß er jeder Farbe auch einen ‘Umschlagswert’ zubilligt und ‘blau’ in Parallele mit ‘golden’ untersucht: „Beide Farben stehen in Zusammenhang mit Kontextbereichen, die etwas Religiöses andeuten.“[69] - „Ich sehe eine Differenz darin, daß Blau mehr auf Zukünftiges hinweist, Golden mehr unter dem Zeichen der Erinnerung steht.“[70] Doch wenn Trakl, um neben dem obigen zur Illustration naturhafter Farben nur ein kurzes Beispiel zu liefern, schreibt: „ruhig wohnte die Kindheit / In blauer Höhle“ (S. 45) - „die Metapher einer Mutterleibsphantasie“[71] - , so muß zu den bisher gesammelten Bedeutungen zumindest eine weitere Facette von ‘blau’ in der traditionellen Symbolik ergänzt werden: „Blau ist die Farbe der großen Tiefe, das weibliche Prinzip der Wasser; als Himmelblau ist es die Farbe der Großen Mutter, der Himmelskönigin und aller Himmelsgötter bzw. Himmelsmächte (...).“[72] Für ‘golden’ bieten uns Philipps eben zitierte Worte, mehr aber noch die Heideggers eine kongruente Abrundung dessen, was über den ambivalenten Symbolwert dieser Farbe bereits unter 2.2 angedeutet worden ist. Ähnliches gilt für ‘weiß’, das unter 2.1, auf Ranke-Graves und Melville gestützt, als die vielleicht antinomischste überhaupt besprochen wurde; Philipps Ergebnis: „‘Verlust’ und ‘neue Möglichkeit’ sind als Bedeutungskomponenten integriert (...)“[73] - weicht davon nicht ab. Eine interessantere Ergänzung liefert ein Symbollexikon zu ‘weiß’: „Das Undifferenzierte; transzendente Vollendung; Einfachheit (...) Weiß steht im Zusammenhang mit Leben und Liebe, aber auch mit Tod und Begräbnis.“[74] Ebenso besitzt selbst das häufigste Farbadjektiv ‘schwarz’ einen ‘Umschlagswert’ und ist keinesfalls nur negativ besetzt, wie dies auch Heidegger und die Symbolik zum Ausdruck bringen. Simplifizierend, noch ohne ihre polare Weite hat Mahrholdt, einer der ersten Interpreten Trakls, die Farben aufgefaßt: „Schwarz und weiß deuten auf das Nichtsein (...), grün für die Natur, rot für die Lebewesen, Mensch und Tier, blau für die Seele, das Heilige.“[75] Bei den hier aufgeführten ‘rot’ und ‘grün’ griff schon Heidegger wesentlich tiefer, vor allem wenn er ‘rot’ in die Komponenten ‘purpurn’ und ‘rosig’ untergliederte, die ihrerseits bei Trakl nicht selten erscheinen. Auch im Symbollexikon ist ‘grün’ „ambivalent, sowohl Leben als auch Tod, im Frühlingsgrün des Lebens und im bläulichen Grün des Todes“[76]. Überhaupt scheint uns Trakl bewegen zu wollen, die den Farben innewohnende symbolische Mehrdeutigkeit wahrzunehmen; von ‘rot’ heißt es entsprechend in einem anderen Nachschlagewerk: „Es ist die Farbe des Lebens, der Leidenschaft und der Liebe (...). Schon im Tierreich hat Rot die Signalbedeutung ‘Gefahr’; beim Menschen Symbol für Blut, Kampf und Tod.“[77] Merkwürdigerweise geht die benutzte Literatur nahezu nicht darauf ein, daß auch eigentlich unfarbliche Ausdrücke den Stellenwert von Farben zu gewinnen vermögen. Dies könnte, wenn auch nicht ausschließlich, für das schon besprochene ‘dunkel’ gelten, besonders aber für Adjektive wie kristallen, steinern und hyazinthen. Eine parallele Zuordnung bei Mahrholdt setzt eines davon in Verbindung mit Farben: „Der Kristall versinnbildlicht durch seine Geschliffenheit das Reine (...). Diese mittelbaren, ursprünglich Dinge bezeichnenden Farben: kristallen, silbern und golden geben auch oft ein Gefühl, die Innenempfindung eines Körperteils wieder (...).“[78] Doch verharrt diese Beobachtung allzusehr in Einseitigkeit. Eine eingehendere Erörterung dieser Ausdrücke soll der Stringenz halber unterbleiben, bis sie in konkretem Zusammenhang nötig wird. Nur auf das oft so änigmatisch verwandte ‘kristallen’ sei ein Seitenblick geworfen. Wäre Mahrholdts symbolistische Bestimmung - die durch Symbollexika zu bestätigen und ergänzen ist[79]- anhand von Fügungen wie ‘kristallne Engel’ (S. 26) und vielleicht noch ‘Elis’ kristallener Stirne’ (S. 49) zu verifizieren, so engte sie das durchaus naturnahe ‘im leeren Kristall des Bergsees’ (S. 90), das chiffröse ‘die kristallenen Weiden des Rehs’ (S. 79) und andere Belegstellen allzusehr ein. Schreiber faßt ‘kristallen’, zumindest formal, ähnlich wie Mahrholdt: „Weiß, silbern, kristallen sind oft die Epitheta besonderer Hoheitsaussagen.“[80] Abgesehen von der - wiewohl für ‘Engel’ nachvollziehbaren - unangebracht monosemistischen Tendenz dieser Aussage trägt er zur gleich anschließend skizzierten terminologischen Verwirrung bezüglich Trakls Bildlichkeit eine neue Bestimmung, Epitheta, bei. Wir dürfen indessen den rätselvollen Ausdruck ‘kristallen’, da uns die Forschungsliteratur nicht weiterleitet, getrost als solchen belassen. Markant für die Mehrdeutigkeit von Trakls Dichtung und für die Literaturwissenschaft relevant sind die Versuche zur Einordnung ihrer Farben oder Bildlichkeit überhaupt in Kategorien.[81] Während Philipp eher unbestimmt um ‘Metapher’ und ‘Begriff’ kreist, wenden Killy und Hellmich die Bezeichnung ‘Chiffre’ an; Schreiber und Heidegger neigen zu ‘Symbol’. Zur Komplettierung der Verwirrung sei Basil bemüht, denn bei ihm „gewinnt die Farbe (...) Eigenleben, wird zur Metapher, zum Sigel und Symbol“[82]. Doch zeigt, wie wir gesehen haben, auch und besonders die traditionelle Farbsymbolik erstaunliche Übereinstimmungen mit bei Trakl zu entdeckenden Stimmungs-, Assoziations- und Konnotationsebenen. Daß dies nicht stets und bei jedem Beispiel in konstanter Weise deduziert werden kann, war schon am andiskutierten ‘kristallen’ ersichtlich und darf uns bei Trakl nicht überraschen. Ähnliches ist bei ‘purpurn’ zu finden, dessen Subsumierung unter ‘rot’ und Verbindung mit ‘fleischig’ bei Heidegger nicht befriedigt. Ein Symbollexikon listet, neben anderen, folgende Bedeutungen auf: „Königswürde; kaiserliche und priesterliche Macht; Pomp; Stolz; Wahrheit; Gerechtigkeit; Mäßigkeit; die Farbe ritueller Dienste; Gottheiten der Unterwelt.“[83] - ein anderes ergänzt: „In der esoterischen Symbolik deutet Purpur auf das kostbarste Gut, die Weisheit.“[84] So passend die letzte dieser Zuweisungen für einen Ausdruck wie „Eine purpurne Flamme erlosch an meinem Mund“ (S. 47), so naturnah man „voll purpurner Trauben“ (S. 15) wahrnehmen könnte, es müssen ebenso Stellen wie „purpurne Flamme der Wollust“ (S. 56) und „Nachhallen die purpurnen Flüche / des Hungers in faulendem Dunkel“ (S. 73) genannt sein, bei denen uns all das zuvor Erklärte ratlos beläßt. So soll ‘purpurn’ wie schon ‘kristallen’ als Rätsel verbleiben. Es wirkt indessen wie vergebene Liebesmüh’, Trakls Farben und Bildlichkeit allgemein in Kategorien einteilen zu wollen; die Unintegrierbarkeit in wissenschaftliche Terminologien repräsentiert ein weiteres Moment der Verweigerung, welche diese Poesie wider vereinheitlichend-einseitige Beanspruchung leistet. Dies ist ein starkes Indiz für die Insuffizienz solcher Rubrizierungen, Trakl einem ihm gemäßen - im Sinne von ihm angemessen und würdig - Verständnis zuzuführen, selbst wenn ein neuer, präziserer und verbindlicher Terminus technicus für ihn ausgetüftelt würde. Vergegenwärtigen wir uns, was alles in die Bildlichkeit, besonders jener der Farben, mit einfließt, und zwar zumeist auf Dichter und Leser zu beziehen: Sinnlichkeit und Musikalität; das Feld der Assoziation, Phantasie wie auch Psychodelik; die traditionelle genau wie eine dem Gesamtwerk und -leben Trakls eigene, hermetische Symbolik; intendierte Verschlüsselung, Verfremdung und Chiffrierung; sicher neben weiterem auch das schon in der Einleitung angesprochene Kontinuum der Archetypen des kollektiven Unbewußten nach C. G. Jung. An jedem Detail eine Zuweisung der Anteile all dieser Faktoren eruieren zu wollen, wäre ebenso langwierig wie es letztendlich den Reiz und die Intention dieser Dichtung mit einem Datenberg verschütten würde. So sind die Farben als Sammelbecken von Bedeutungen zu begreifen, das in Breite und Tiefe kaum auslotbar erscheint. Doch, um im Bild zu bleiben, besitzt jedes einen Ausfluß, eine Richtung, Gestimmtheit und/oder Tönung - bei der vokalen Klangfülle von Trakls Lieblings-Farbwörtern ist dies durchaus auch musikalisch zu verstehen -, so daß es niemals indifferent oder beliebig ge- und mißbrauchbar erscheint. Dies erinnert an Musik mit ihrer, sogar in der Gestalt der Programmusik, nie eindeutigen, nicht konkretisierbaren Bedeutungsträchtigkeit, die dennoch, zumindest emotional und assoziativ, gleichzeitig nie völlig beliebig ist. Aufgrund dieses Befundes sei zum Ende dieses Kapitels ein Vorschlag unterbreitet. Die Sammelbecken jeder Farbe offerieren zusätzlich ein musikalisches Element im Gesamtwerk, müssen dies aber, zumindest in ihrer Totalität, nicht. Indem er dies an ‘golden’ exemplifiziert, entdeckt Hellmich eine vieldeutige Basis von Trakls Poesie: „Leitmotiv wollen wir in der Dichtung das wiederholte Auftreten bildlicher oder musikalischer (...) Motive nennen, die (...) untergründige Zusammenhänge schaffen und dadurch der Sprache eine gewisse Doppelschichtigkeit, eine ihr objektiv sonst fehlende Tiefendimension (...) geben und dadurch vielleicht sogar eine Art Mehrstimmigkeit über die normale Monodie der Sprache hinaus ermöglichen.“[85] Nicht unterschlagen werden soll der Hinweis auf den Musiker, der das Leitmotiv paradigmatisch in sein Werk verwoben hat, war doch „gerade Wagner einer der Komponisten, die Trakl liebte und deren Werke er, wenigstens teilweise, kannte“[86] Auch Schreiber konnotiert das Leitmotiv mit Trakls Dichtung.[87] Weiterhin könnten die in diesem Kapitel behandelten Phänomene schon im üblichen metaphorischen Sprachgebrauch als Klangfarbe oder Farbklang - man denke nur an den Vers „Vorm Fenster tönendes Grün und Rot“ (S. 19) - bezeichnet werden. Dadurch taucht der Kontext jeweils in ein Licht oder Dunkel, Dur oder Moll, ist mit einem kaleidoskopartig-unfixierbaren Bedeutungsspektrum ausgeleuchtet. Neben der Identifikation mit dem Leitmotiv könnten wir den Farben somit auch die Wertigkeit spezifischer Tonarten oder zumindest Grundtöne zuweisen, um ihrer Vieldeutigkeit eine weitere Facette beizumischen. In fließendem Übergang sind wir so bei der nun zur Besprechung anstehenden, vielbedeutsamen musikalischen Dimension von und in Trakls Werk angelangt. |
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Fußnoten: [40] Killy,
Walther: Über Georg Trakl, S. 19 |