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3.2 Die lyrische Musik Auf die Bedeutung von Rhythmus und Klang als das die nicht oder kaum auslotbaren Bilder und Inhalte bindende Element wurde bereits bei der Diskussion von „Abendmuse“ und „Gesang einer gefangenen Amsel“ hingewiesen. Sie als bloßes Ornament zu betrachten und die sie bewirkenden Techniken zu analysieren, griffe zu kurz; zwar würde uns dies möglicherweise einen der sinnlichen Reize von Trakls Poesie nachvollziehen lassen, könnte aber nicht ihr Geheimnis und ihre komplexe Bedeutung erklären. Schon allein die Erkenntnis, daß ohne die lyrische Musik „Gesang einer gefangenen Amsel“ in seine Polysemie und unbegrenzbare Assoziationsweite erodieren müßte, beweist, von welchem Belang die musikalische Sphäre ist. „Untersuchen wir (...) das Wortmaterial in Trakls Gedichten, so fällt sofort die Häufigkeit der Begriffe aus dem musikalischen Bereich auf. Dieser Wortbezirk ist weit umfangreicher und differenzierter als jener der Farben, der so oft als kennzeichnend für Trakls Diktion herangezogen wird.“[88] Zur ersten Illustration dieser Erkenntnis können sowohl der ostinate Baß von ‘dunkel’ (s. 3.1), die klangmalerischen Aspekte um das Amsel-Motiv (s. 3.1.2) als auch der folgende Verse dienen:
Die obskure Semantik dieses Verses tritt hinter seinen voll-schwellenden Klang zurück, so daß er uns zu vermitteln scheint, die ‘Schritte’ stiegen in eine Art alldurchdringende, umbergende Sphärenmusik ‘fort’. Da die erstaunliche Fügung ‘leuchtende Schritte’ keineswegs singulär im Gesamtwerk dasteht, soll zunächst ‘läuten’ als musikalische Klangäußerung betrachtet werden. Nahezu ebensooft wird es allerdings auf die übliche Art, von Glocken erzeugt:
Außerdem wird ‘läuten’, wieder änigmatischer, auf „der Toten Gestalt“ (S. 55), „Blumen des Sommers, die schön im Winde läuten“ (S. 79) und einen „steinernen Bau“ (S. 72) prädiziert; in der weiteren Umgebung dieser Zitate taucht öfter die schon wiederholt diskutierte Farbe ‘blau’ auf. Am auffälligsten bleibt indessen die Kombination mit ‘Schritten’, wofür hier zwei - andere nicht ausschließende und nicht als Erklärungsformel zu mißbrauchende - Deutungsweisen vorgeschlagen sein sollen: |
1. Sie könnte auf einer Kontraktion zweier temporal und
kausal verbundener Eindrücke beruhen: Die Menschen schritten unter Geläute
zum Salzburger Dom, in dessen unmittelbarer Nähe sich das Haus der Familie
Trakl befand. Doch kehren wir nochmals zur unmittelbar sinnlichen Expression von Musik in Trakls Poesie zurück und horchen auf Verse wie:
Hier, wie auch in der weiteren Umgebung dieser Verse aus dem Gedicht „Nachtlied“ ist ein Vokalismus mit ‘a’ ähnlich dem in Zusammenhang mit ‘Amsel’ zu beobachten. Er vermag in seiner getragen-kraftvollen Monodie die eigentlich chiffrösen, sich rationaler Deutung entziehenden Verse in doppelter Hinsicht sinnfällig zu gestalten, indem er das ‘gewaltige’ am ‘Schweigen im Stein’ und den ‘in einem’ verklingenden ‘Dreiklang’ hör- und spürbar werden läßt. Überhaupt sei hier kurz und nicht eigens belegt festgestellt, daß Trakls Wortschatz vokalreiche, lang- und volltönende Ausdrücke bevorzugt. Seine zumeist verhaltenen, beschwörenden Rhythmen, sein eigentümliches Melos und vor allem sein Wohlklang als Hauptcharakteristika der Musikalität sind zu einem wesentlichen Anteil hierin begründet. Überhaupt ist mit ‘Wohllaut’ (Hellmich spricht vom „unverwechselbar Traklschen ‘Wohllaut’ - unverwechselbar trotz seiner offensichtlichen Übernahme von Hölderlin!“[89]) ein Schlüsselbegriff unseres Kontextes genannt:
Daß hier wie auch an den anderen Stellen Wohllaut stets mit ‘nächtlich’ und ‘dunkel’ verbunden ist, bestärkt nachträglich die These aus 3.1 vom ostinaten Baß des Wortes ‘dunkel’ im Gesamtwerk.[90] Es darf bereits ein Zwischenfazit eingeschoben werden. Wenn nicht hier bei Trakl, wo anders sollte Hermann Schreibers Verdikt Evidenz erlangen, „daß Sprache mehr ist als Sinn und Mitteilung; der Klang eines Wortes, der über einem Vers rätselhaft schwebende Tonfall, die aus einer Strophe ohne unser Zutun aufsteigende Melodie - sie haben ihr unbestreitbares Eigenleben (...).“[91] Dies kann nicht zuletzt in der, zumindest partiellen, Auflösung semantischer Elemente in Musikalität und deren Priorisierung bei der Formgestaltung bestehen, was jedoch nicht impliziert, daß damit Bedeutungslosigkeit vorherrschen müßte. Die grundsätzliche Doppelbedeutung lyrischer Musik bei Trakl beruht jedoch zum ersten in ihrer hier nur kurz skizzierbaren sinnlichen Präsenz im Werk, zum zweiten jedoch - wie anhand der Begriffe ‘läuten’ und ‘Wohllaut’ schon erkennbar - in der Häufigkeit sehr unterschiedlicher, von Musik ableitbarer Motive im Gesamtwerk. Sie ist also zusätzlich Gegenstand des konkreten Inhaltes; für die unterschiedlichen Weisen, in denen sie erscheint, soll nun eine knappe Übersicht geboten werden. Der Vers „Im Haselstrauch die Amsel musiziert“ (S. 160) sowie alles weitere über die ‘Amsel’ Gesagte führen uns in den Bereich Naturmusik, was die Auffassung und Darstellung natürlicher Laute als Musik meint. Neben der Amsel tauchen Vögel allgemein in diesem Zusammenhang auf, wobei hier der Schwerpunkt meist auf den Flug und die Züge gelegt ist, was schon für den unter 3.2.1 erwähnten Vers „Folg ich der Vögel wundervollen Flügen“ aus dem Gedicht „Verfall“ (S. 33 f.) galt. Flug und Musik der Vögel sind an einigen Stellen sogar kombiniert:
Um diesen kurzen Blick auf die Ornis abzurunden, sei noch die Drossel erwähnt, die zwar seltener, aber in ähnlicher Weise - hier stark an das Gedicht „An den Knaben Elis“ erinnernd - wie die Amsel auftaucht:
Doch erzeugen neben Vögeln auch weitere Tiere Musik:
Animalische Laute können sogar bis ins Groteske gesteigert musikalisch vernommen und umschrieben werden:
Betrachten wir nun das Wasser, welches, schon als solches und Naturelement, Musik zu erzeugen vermag:
Gleiches gilt übrigens, wenn auch in geringerem Maß, für die Luft:
Sehr schön illustriert findet sich die Naturmusik in einem weiteren Zitat:
„Das Rauschen des Laubes“ ist hier mit dem Tönen des Wassers gleichgesetzt, wobei jenes Rauschen spätestens durch Eichendorff zu einem Inbegriff lyrischer Musik erhoben worden ist. Dies mögen vier Verse seines Gedichtes „Die Spielleute“ veranschaulichen:
Dem Wasser in spezifischeren Vorkommensweisen werden bei Trakl ebenfalls Musizier-Fähigkeiten zugeschrieben:
Immer bleibt bei diesen Beispielen die Grundambiguität erhalten, das via Versprachlichung musikalisch empfundene Phänomen als einen subjektiven Eindruck des Lyrikers oder als eine von der Natur mit ihren Elementen und Lebewesen objektiv hervorgebrachte ästhetische Lautäußerung verstehen zu können. Ohne dies näher belegen zu müssen ist klar, daß sich Trakl in diesem Punkt von ungezählten Lyrikern - oder Künstlern überhaupt - aller Zeiten und Länder nicht unterscheidet. Um diese Gruppe Traklscher Klangempfindung zu verlassen, sollen einige Stellen genannt sein, bei denen nicht genau zu unterscheiden ist, ob die Musik der Sphäre von Natur oder Mensch entstammt:
Als Einstieg in die vielfältigen Formen, in denen von Menschen erzeugte Musik auftreten kann, diene eine Strophe, die fein abgestuft ein akustisches Panorama innerhalb des Gedichtes „Die schöne Stadt“ nachbildet:
Zusätzlich heißt es im ersten Vers der nächsten Strophe: „Helle Instrumente singen“. An Musikinstrumenten treten bei Trakl[93] neben der Orgel z.B. „Trompeten“ (als Gedichttitel auf S. 26), Geige, Laute, Saiten- und Glockenspiel, die schon angesprochenen Glocken und Flöten auf, diese sowohl als Instrument wie auch als Bezeichnung von Vogellauten. Als letztes ist hier - besonders wegen seines onomatopoetisch-musikalischen Seitenhiebes - dieses Zitat unverzichtbar:
Ein anderes Anwendungfeld liefern fachbegriffliche Vokabeln - an einer Stelle wird sogar ein Komponist genannt:
Die oben bereits einmal aufgeführte Sonate tritt noch einigemal auf, nie jedoch so eindeutig als Kunstmusik gekennzeichnet wie im Gedicht „Unterwegs“. Wie die schon erwähnten ‘Dreiklang’ und ‘Ratten-Chor’ tritt auch ‘Akkord’ meist in Kontexten auf, die konventionellerweise keine Musik erwarten lassen:
Nur genannt werden sollen die selteneren und großteils enger an der Ursprungsbedeutung verharrenden Fachbegriffe wie ‘Quartett’, ‘Choral’, ‘Romanze’ und ‘Konzert’. Zu diesen mannigfachen Erscheinungsweisen von Musik muß weiterhin das zahlreiche - bereits an vielen Zitaten exemplifizierte - Prädizieren von Verben wie vorzugsweise ‘klingen’, ‘singen’, ‘tönen’ auf oft ungewohnte oder scheinbar dazu unfähige Dinge gezählt werden. Dies ist ebenso signifikant wie eine bloße Liste von Titeln, die als Musikstück deklarieren, aus den Zyklen „Gedichte“ und „Sebastian im Traum“: „Musik im Mirabell“, „Geistliches Lied“, „Kleines Konzert“, „Rosenkranzlieder“, „Abendlied“, „Nachtlied“, „Stundenlied“, „Kaspar Hauser Lied“, „Abendländisches Lied“, „Siebengesang des Todes“, „Gesang einer gefangenen Amsel“, „Gesang des Abgeschiedenen“. Zumindest erwähnt werden muß ebenfalls das so häufige, oft mit musikalischen Eindrücken verbundene ‘leise’, ein „Schlüsselwort Traklscher Dichtung“[94]. Um die Mannigfaltigkeit des Erscheinens von Musik bei Trakl - wir vermögen sie im gegebenen Rahmen nicht zu komplettieren - ein wenig abzurunden, sollen noch folgende, schwer einzuordnenden Stellen angeführt sein:
Daß im letzten Zitat von einem von der „Seele“ gesungenen „Lied“ gesprochen wird, weist auf einen eigenen Bereich, der neben anderem die Sphären von Mensch- und Naturmusik (was besonders durch die im zweiten der anschließenden Beispiele zitierte Strophe aus „An einen Frühverstorbenen“ einsichtig wird) mischt und hier wenigstens erwähnt sein soll.
Die hier dem Abschluß vorbehaltene der - grob und der Übersicht halber eingeteilten - Vorkommensweisen von Musik in Trakls Poesie läßt sich als synästhetisch, assoziierend und assonierend mit dem eingangs dieser Betrachtung beschriebenen sinnlichen Anteil von Musik bezeichnen und schwebt quasi zwischen Natur- und Menschtönen. Dies ist schon in manchem Zitat dieses Kapitels zumindest in Nuancen präsent gewesen, zum Beispiel bei ‘läuten’ in seinen sehr unterschiedlichen Erscheinungsarten. Der folgende, von Krähen handelnde, Satz birgt viele dieser Sphären in dichter Komprimation:
Über Details und Ausschnitte hinaus ist ein nachgelassenes Gedicht mit seinem Titel „Wintergang in a-moll“ (S. 167) als Gesamtes für eine musikalisch-synästhetische Auffassung anempfohlen, wobei hier nicht eruiert werden kann, ob dies mehr durch Bildlichkeit und/oder Lautung oder überhaupt - der Text ist wohl kaum Trakls Reifeperiode zuzuordnen - verwirklicht ist. Ähnliches gilt für das Gedicht „Sommersonate“ (S. 154); wir müssen uns mit dem Ansatz begnügen, daß der musikalisch-synästhetische Anspruch dieser Titel aus der Trakls Reife vorausgehenden Phase wahrscheinlich erst in den späten Gedichten eingelöst worden ist. Ergänzend sei noch auf die von Trakl vielfältig gehandhabten Stilmittel Alliteration und Reim hingewiesen, also primär klangliche, musikalische Phänomene, die als solche jedoch nicht weiter diskutiert sein sollen. Gleiches gilt für einen zusätzlichen Interpretationsansatz, der sich aus unseren Betrachtungen zur lyrischen Musik und der Rolle der Wörter bei Trakl ergibt: „(...) je weniger das im Wort Bezeichnete (...) syntaktisch oder lexikalisch determiniert ist, desto größer ist der Spielraum des Lautkörpers (...), neue Zusammenhänge in Form von Klangentsprechungen zu schaffen.“[95] Am Ende dieses Kapitels sei vermerkt, daß Erscheinungsweisen, Evokation von und Bezugnahme auf Musik in so mannigfaltiger Art Trakls Poesie eigen ist, daß diese illustrierende, speziell Mehrdeutigkeit in Rücksicht nehmende Auflistung ohne Zweifel den Keim zu einer eigenen Untersuchung der Musik als sinnliches und motivisches Element bergen könnte.[96] Es gibt wohl keinen Bereich, gleichgültig, ob er auf seelische, sinnliche Wirklichkeiten und deren Vermischung referiert, Mensch und/oder Natur betrifft, in welchem Musik in akustisch-sinnlicher oder lexikalischer Form nicht anzutreffen wäre. Sogar bei apokalyptischen Visionen respektive Eindrücken, so in folgenden Zitaten aus dem Gedicht „Grodek“ (die dortige Schlacht hat Trakl 1914 kurz vor seinem Tod miterlebt), ist immer noch, zumindest rudimentär angedeutet, Musik zu vernehmen: Am Abend tönen die herbstlichen Wälder Genauso wichtig ist aber auch, daß all die aufgeführten Bereiche kaum je separat, sondern vermittels der Mehrdeutigkeit, die Musik in Vokabeln, Gehör, Kontext und Empfindung gewinnt, vielfach verbunden, ja verschmolzen sind. Aus dieser Perspektive ist die hier geleistete Einteilung, so durchlässig und grob sie sein mag, mehr der Übersicht und Demonstration halber denn wegen völliger Angemessenheit für das Werk bemüht worden. Jedenfalls werfen diese Überlegungen ein Schlaglicht auf eine der, hier vielleicht als musikalischen Kosmos zu benennenden, Urquellen von Trakls Poesie; daß dieser Gedanke in noch weiterführendem Sinn zu verfolgen ist, soll durch das anschließende Kapitel der Abhandlung beigesteuert sein. |
3.2.1 Verse als Mantra
Im Dienste der Aufdeckung von Mehrdeutigkeit versucht dieses Kapitel mit einer ebenso ungewöhnlichen wie zunächst scheinbar fernliegende Verständnisweise und Perspektive des zu untersuchenden Werkes aufzuwarten. Ein noch weitergehender Einfluß der Musik auf Trakls Dichten, der sogar über sie - in sinnlicher und semantischer Präsenz - und Sprache hinaus auf eine potentielle ursprüngliche Einheit deutet, läßt sich anhand des folgenden Gedichtes, „(...) das kürzeste und vielleicht musikalischste Werk Trakls (...)“[97], vermuten:
Einige der schon behandelten Aspekte von Musik bietet dieses Gedicht konzentriert dar, besonders den der Tonarten der es dominierenden Farben in der sonoren Monodie ihrer identischen, regelmäßig vierhebigen jambischen Reime. Auffälligerweise treten ‘blau’ und ‘braun’ jedoch nur als sie selbst - eben als dem Sammelbegriff ‘Farben’ zugeordnete Adjektive - auf und nicht auf ein konkretes oder abstraktes Substantiv bezogen oder gar selbst substantiviert, was sie verdinglichen und/oder personifizieren würde. Nicht zuletzt tragen sie zum Reichtum an klangvollen und langen Vokalen bei, welche dieses Gedicht so sehr prägen. |
Wegen der ‘verflossen’-vergänglichen, abendlich-herbstlichen Gestimmtheit
(auch im Sinne von Tönung und Färbung) leuchtet Killys Bemerkung zunächst
ein: „Dies Rondel ist ein Nachklang romantischer Schwermut, die des goldnen
Zeitalters gedenkt (...).“[98].
Dennoch ist dieser Aspekt einseitig und würde das Werk, nähmen wir es nur
so wahr, zu einem peripheren Wortspiel degradieren.
Zunächst sei auf zwei mehrdeutige Wörter hingewiesen: ‘Verflossen’ kann, wie schon angedeutet, im Sinne von ‘vergangen’, andererseits aber auch nicht metaphorisch verstanden werden, indem man ‘das Gold der Tage’ als Flüssigkeit sieht. Dadurch könnte, vorschlagshalber, sommerlich-herbstliche Fruchtbarkeit und speziell Wein assoziiert werden, ebenso aber ein verlöschender Widerschein in abendlichen Wolken, womit nicht auf ein abstrakt-fernes ‘goldenes Zeitalter’ referiert zu werden bräuchte. Das zweite Wort ist ‘starben’, welches metaphorisch für das Verstummen der Hirtenflöte am Abend und/oder zum alljährlichen Ende der Weidesaison stehen, aber auch transitiv im folgenden Vers ‘des Abends blau und braune Farben’ sterben lassen kann. Dadurch böte sich eine Interpretation für die Wiederholung des ersten Verses im fünften an: Wenn die ‘gestorbenen’ Farben blau und braun im ‘Gold der Tage’ zur Synthese gebracht sind, bewirken Hirten durch ihr Flötenspiel das Verfließen des Goldes der Tage. Dies wäre weder hinsichtlich einer Farbmischung, des per Komma dem ‘Gold der Tage’ als Apposition gleichgesetzten zweiten Verses, dessen abschließender Doppelpunkt das folgende als Erläuterung markieren könnte, noch der unter 3.1.3 dargelegten komplexen Bedeutung der Farben abwegig. Der Kreis schlösse sich durch die quasi magische, den Fortgang der Tages- und Jahreszeiten stimulierende Wirkung der Flöten, wobei ‘starben’ hier nicht unbedingt das Verstummen derselben implizieren müßte. Obgleich diese Verständnismöglichkeit - was immer sie auch an Assoziation/Interpretation zu begründen vermöchte - schwerpunktmäßig aus den Versen drei bis fünf ablesbar ist, ordnet sie das Gedicht dennoch einer kausalen und temporären Struktur ein, die nicht exklusiv aus ihm zu extrahieren ist. Da ähnliche, die Verweigerung des Gedichtes, sich rationalen Fixierungen zu unterwerfen, demonstrierende Teil- oder gar Abwege anläßlich einer Einbeziehung der Interpunktion sowie der Erörterung von ‘Hirt’ und ‘Flöte’ als Symbole und im Kontext des Gesamtwerkes zu erwarten wären, soll dies unterbleiben. Wenden wir uns der aufschlußreicheren, kreisförmig zum Ausgangspunkt zurückkehrenden Form des Gedichtes zu. Die Verse des Gedichtes sind symmetrisch angeordnet, wobei der als einziger nicht wiederholte dritte als Spiegelachse fungiert. Allerdings darf dieser Vers nicht nur als die Achse von Spiegel-, sondern sogar einer Punktsymmetrie angesehen werden, da die Reihenfolge der Farbadjektive im zweiten und vierten Vers vertauscht ist. Durch die eher positive, in Höhe und Weite weisende Besetzung von ‘blau’ bei Trakl und in der Symbolik, die aber eher negative, gegenläufig in die Tiefe gerichtete von ‘braun’ (seine symbolische Bedeutung, die zumindest grob auf Trakls Werk anwendbar ist, reicht von „Farbe des Erdbodens“ bis zu „Demut“[99] und „Entsagung“[100]) erfährt der vierte Vers wie das Gedicht überhaupt eine seiner Kreisform gegenfließende Katabasis. Beim musikalisch-ästhetischen Reiz dieser Verse müssen wir uns - zumindest versuchshalber - vorstellen dürfen, ihre Kreisform mehrmals zu durchschreiten, sie wieder und wieder herzusagen und nach-zu-denken, indem der Schlußvers jeweils den Anfangsvers ersetzt. Eine Art Litanei würde sich ergeben, die stethin den Varianten der Mehrdeutigkeit der Worte und Verse und ihrer Bezogenheit nachzuschweifen und -zusinnen in der Lage ist. Als einer ihrer Faktoren, mehr aber noch als Movens und suggestiven Kreisfluß evozierendes Element fungierte dabei die Punktsymmetrie - dies eher ergänzend als konträr zur im letzten Abschnitt festgestellten katabatischen Tendenz - der Farben ‘blau’ und ‘braun’. Die meditativ-versenkenden Auswirkungen eines solchen Versuches rufen das Mantra - selbst ein vieldeutiges, kaum übersetzbares Wort - des Hinduismus und Buddhismus als Parallele und Vergleich herbei. In einer Enzyklopädie heißt es darüber: „Mantras dienen dem Gebet, sie sollen auch schützen und vor allem in der wiederholten (gesprochenen oder lautlosen) Rezitation und der Meditation der Läuterung des Geistes, der Erlösung und der Vereinigung mit dem Göttlichen dienen.“[101] Ergänzend dazu sei unter dem Stichwort ‘Mantra’ ein Lexikon der indischen Mythologie aufgeschlagen: „Ursprünglich jede vedische Hymne, die von den Priestern zu einem bestimmten Zweck vorgetragen werden mußte. Später war ein Mantra ein Textteil, den der Guru seinem Schüler gibt, der für den Rest seines Lebens darüber meditieren wird. (...) Da den vedischen Hymnen magische Kraft innewohnen soll, kann ein Mantra schließlich ‘Zauberspruch’ bedeuten: Zeilen aus einem okkulten Text, der Wunder bewirkt.“[102] Eine wichtige Ergänzung ist einem Buch über ‘Tantra’ zu entnehmen: „Die mantras sind absolute Laute, haben also keine herkömmliche Bedeutung. Sie wirken durch ihre Schwingungskraft auf Körper und Geist.“[103] Die hier beschriebene Wirkung ist eine mit musikalischen Mitteln hervorgerufene und durchaus auf Lautung und Rhythmik der Traklschen Poesie zu übertragen, da bei ihr ebenfalls die ‘herkömmliche Bedeutung’ von Lauten und Worten nicht unreflektiert anwendbar ist. Die vorherigen Zitate zum ‘Mantra’ bieten gleichfalls etliche Ansatzpunkte, die mit unserem Versuch des Umgangs mit dem „Rondel“ koinzidieren. Die Nähe zur Magie hat schon Otto Basil in seinem der Einleitung dieser Arbeit vorangestellten Zitat festgehalten; doch stoßen wir damit in eine Dimension, auf die kaum mehr als hingewiesen werden kann, da sie jenseits der Grenzen literaturwissenschaftlicher Analyse angesiedelt ist. Allerdings eröffnet die Auffassung des ‘Rondel’ als Mantra - und klingen uns nicht manche andere Verse Trakls gleichfalls so nach? - dennoch eine weitere Perspektive auf die Dichtung Trakls. In einem Buch über Mandalas steht zu lesen: „Und dieser Rosenkranz verbindet uns wieder mit dem Osten, denn wahrscheinlich entspricht er der indischen Mala[104], die von dort zu den Arabern gelangte und dann von den Kreuzrittern mitgebracht, bei uns zum Rosenkranz wurde. Das Rosenkranzgebet ähnelt in seiner Monotonie dem Herzensgebet der Ostkirche und sogar dem Gedanken der tibetischen Gebetsmühlen, ja, es hat sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Koan des Zen.“[105] |
Ebenso wie das im „Rondel“ entdeckte Phänomen hier in einen globalen Rahmen eingeordnet scheint, rücken die drei von Trakl unter dem Titel „Rosenkranzlieder“ (S. 32 f.) zusammengefaßten Gedichte in den Blickpunkt. Besonders das erste, dessen Eingangsvers bereits unter 3.1.1 zitiert wurde, erinnert durch Stimmung, Klang und identische Reime an das „Rondel“ und ließe sich noch am ehesten als Mantra denken und/oder rezitieren.
Die beiden weiteren „Rosenkranzlieder“ - „Nähe des Todes“ und „Amen“ - spielen hingegen mehr mit Bildern aus dem Bereich des Religiösen und ihrer versunkenen Gestimmtheit auf ihren Gesamttitel an als durch musikalische Strukturen und sollen darum außerhalb der Betrachtung verbleiben. Mögen diese Verständnis-, besser: Anwendungswege, wie eingangs gesagt, hergeholt erscheinen: Dem polyvalenten Inhalt und der musikalischen Durchdrungenheit nicht nur der zuletzt diskutierten Gedichte laufen sie konform und begehen keine seziererischen oder vereinnahmend-fixierenden Eingriffe in die sprachlichen Kunstwerke. Im Gegenteil können sie sogar den in der europäischen Tradition degenerierten Aspekt des lauten Vortrags von Dichtung als bei Trakl ebenso virulent wie vonnöten herausstellen. Die sich durch lautes Lesen oder Hören von Trakls Versen eröffnenden Irritationen und/oder weiteren Zugangswege und Mehrdeutigkeiten können allerdings von keiner Erörterung dargeboten, sondern nur vom jeweiligen Rezipienten persönlich erfahren werden. |
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Fußnoten: [88] Hellmich:
Klang und Erlösung, S. 23. Im Folgenden ist eine umfassendere Darstellung
des Wortbezirkes Musik geboten als in der vorliegenden Arbeit möglich. |