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4.2 Apokalypse und Utopie Diese beiden Begriffe repräsentieren nach den von ihnen untrennbaren Eros und Thanatos zwei weitere große Themen der Literatur überhaupt. Apokalypse und Utopie, obgleich antithetischer, gehören zusammen wie die beiden Seiten eines Papierblattes, bedingen sich gegenseitig. All dies gilt auch bei Trakl, der allerdings Antithesen zumeist in Polaritäten abmildert oder gar zu Einheiten umformt. Dezidiert als Apokalyptiker ist er uns bereits in Zitaten aus den Gedichten „Im Osten“ zum Ende des vorherigen Kapitels und „Grodek“[124] in 3.2 begegnet. Als eindrücklicher Beleg ist ferner der später eingehend zu besprechende 3. Teil von „Abendland“ (S. 77) zu nennen. Weiterhin wurde das allgemeine Vorherrschen des Thanatos, die Allgegenwart von Schmerz und Vergänglichkeit bereits bei Trakls Lieblingswörtern unter 3.1.1 sowie an vielen Beispielen evident. Doch so offenkundig dieser Befund vordergründig erscheint, so rasch relativiert und vermehrdeutlicht ihn der aufmerksamere Blick; wie schon in der Vorbemerkung 4.0 per Zitat vorangedeutet, verliert sich Trakl nicht in Verfall und Untergang. Totes kann Wiederbelebung erfahren:
Der letzte Vers bietet die Introduktion des wegen seiner Fülle an Identifikationsgestalten schon andiskutierten „Psalm“; somit sind all diese von einer gespannten Schwebe zwischen Sein und Nichtsein überschattet. Merke: es ist ‘ein Licht’, bei dem durchaus auch Lebens-Licht assoziiert werden kann - ob immer noch, wieder oder jenseits von Vergänglichkeit bleibt als reizvoll-polyseme Offenheit erhalten. Gerade weil unter symbolischen und zeitlich-kausalen Aspekten so viele Deutungen und Konnotationen möglich sind, immer jedoch besagte Schwebe deren Grund darstellt: Bietet uns dieser Vers nicht Leitaussage und -bild für die Nähe von Leben und Tod sowie im weiteren Kontext- und Assoziationsfeld auch von Liebe an? Eines ist jedenfalls evident: „Sterben und Kindheit, Tod und Geburt sind nicht mehr die überwältigenden Kontraste (...).“[125] |
Der Fakt, daß häufig Alter, Tod, Verwesung und Untergang mit Kindheit, Jugend, ja Ungeborenem kombiniert sind und umgekehrt, soll dies ergänzen, jedoch der Straffheit des Gedankengangs halber nicht exemplifiziert werden. Versteckte, ja sogar recht eindeutige Bilder von neuem Wachstum, Wiedergeburt und sogar Auferstehung tauchen auf:
Wie ein noch abstraktes Programm, das später mit Klang, Bild und lyrischer Realität zu füllen war, wirkt ein Vers aus einem frühen Gedicht:
Daher stellt sich die nächste Beobachtung bei Trakl ein: „Vor allem in den späteren Gedichten spitzt sich seine Kontrapunktik auf immer denselben Gegensatz heller und dunkler Motive zu - Leben und Tod (...), und erst in der Konfrontation beider Bereiche entsteht eine ganze, im irrealen Raum des Dichterischen dennoch reale Welt.“[126] Jedenfalls ist eine dem konventionellen Empfinden zuwiderlaufende Einsicht zu konstatieren: „Der Tod wird hier nicht unbestimmt und im allgemeinen als Beendigung irdischen Lebens vorgestellt.“[127] Es kann sogar die radikal-knappe These gewagt sein: „Geburt und Verfall als Synonyma.“[128] Doch drohen wir nicht vermittels allzu pompös-übergreifender Begriffsantonyme abzuheben? Der um die Extrema Tod/Verfall gruppierte Wortbezirk umfaßt auch das in seiner überraschenden, für den hiesigen Zusammenhang signifikanten Doppeldeutigkeit unter 3.1.1 angesprochene Motiv ‘Schmerz’. Ähnliches gilt auch für alle der im Umkreis von Thanatos bereits erwähnten Wörter wie ‘Abgeschiedener’, ‘Einsamer’, ‘Fremder’, ‘Schatten’. Hier sei es an ‘Wahnsinn’ erläutert; eine der dafür als Beleg anführbaren Stellen lautet:
„Wahnsinn bedeutet nicht das Sinnen, das Unsinniges wähnt.“[129] Daher leuchtet es ein, bei ‘Wahnsinn’, zumindest nicht in erster Linie, an einen „physiologisch begründeten (den man deshalb in solchen Versen nicht eher annehmen darf, als bis jede andere Möglichkeit der Deutung erschöpft ist)“[130] zu denken. Kommt uns Mehrdeutigkeit in Bezug auf diese Phänomene nicht längst als flach-indifferenter Ausdruck vor? Treffender wäre von unlösbarem Aufeinander-Bezogensein, ja der Verwobenheit der Überbegriffe Leben und Tod sowie Liebe zu sprechen. Auch im Denken Jungs werden solche Einsichten formuliert: „Werden und Vergehen ist dieselbe Kurve.“[131] Durch dessen Hinweise auf ein kollektives Unbewußtes sowie Trakls Offenheit für mythische Elemente gestützt, dürfen wir an die in dieser Hinsicht erstaunliche Koinzidenzen bergende keltische Mythologie denken, welche bemüht war, „die Grenzen zwischen Leben und Tod zu verwischen, indem man diese miteinander identifizierte.“[132]. Lancelot Lengyel gelangt in seinem diesbezüglichen Buch sogar zu noch weitreichenderen - für unseren Zusammenhang frappierend zutreffenden - Einsichten: „Das Leben entspringt dem Tode, der Tag entspringt der Nacht, der Frühling geht aus dem Winter hervor, - das ist die Konzeption der Kelten. Die Schöpfung vollzieht sich in der nächtlichen Finsternis (...). So gesehen, ist das Reich der toten Seelen alles andere als ein makabrer Ort, vielmehr vielgestaltig und allgegenwärtig.“[133] - „Die ganze scheinbare Irrationalität der keltischen Darstellung entspringt dieser ungewöhnlichen Auffassung, die zudem das Leben mit dem Tod und den vorgeburtlichen Zustand mit dem Zustand nach dem Tode gleichsetzt und diese durch die Vision eines ganzheitlichen Seins neutralisiert, dessen Fortbestand durch die zyklische Erneuerung der Natur garantiert wird.“[134] Ohne Trakl damit auf eine fixe, magisch-reinkarnative Schiene bugsieren zu wollen, bestätigt sich die Anwendung solcher Thesen durch die schon angeführten, der Natur entstammenden Wiedergeburts-Indizien. Dazu kommt das Auftreten der ungebornen Enkel - signifikanterweise am Schluß des letzten Gedichtes „Grodek“ (S. 94) -, die nicht seltene Nähe der Wortbezirke um ‘Kind’-’Tod’ sowie diese Stelle:
Nebenbei muß hier der biographische Aspekt der im Angesicht der abdämmernden K. und K.-Monarchie als verderbt und verfallend erfahrenen Zivilisation berücksichtigt werden. Dies faßt Trakl am eindrücklichsten mit dem Wort ‘Geschlecht’[135], das doppeldeutig sowohl Familie, Ahnen und die Spezies Mensch als auch Trakls inzestuös verstrickten Sexus meinen kann. Diese Bereiche kulminieren in der Prosa „Traum und Umnachtung“ (S. 80-83), in welcher ‘Geschlecht’ die Attribute ‘entartet’, ‘verflucht’, ‘entsetzt’ und ‘dunkel’ beigegeben sind. Historisch gesehen wandelte sich Trakls apokalyptische Prophezeiung
zur Realität des ersten Weltkrieges. So sehr das ‘Geschlecht’, von dem sich der Dichter selbst nicht ausnimmt, dem Untergang anheimgegeben ist, fungiert dieser dennoch für einzelne, mythisch-phantastisch konnotierte, Gestalten sowie die Lebenskraft der Natur ebenso als Durchgang. Der omnipräsente Tod, die Todessehnsucht des Dichters erscheinen so als ein Hinwegsterben, was Flucht, Wandlung und Katharsis implizieren kann, aus der ruinösen Beschaffenheit von Trakls Epoche (und/oder der Moderne überhaupt, wie Stellen gleich der unter 4.1 zitierten Strophe aus „Siebengesang des Todes“ glauben machen könnten?) und Familienverhältnissen. Der eindringlichste Auszug, welcher das Sterben als Befreiung, markanterweise in einem Naturbild, darstellt, ist dieser:
Der Schlußpunkt dieser Betrachtung, bei dem in Verbindung mit Trakl das Leiden der Persönlichkeit an und/oder in ihrer Epoche wie ein Todes-Katalysator zu gewärtigen wäre, gebührt wieder Jung: „Darum bedeutet auch der Zusammenhang mit dem überpersönlichen oder kollektiven Unbewußten eine Erweiterung des Menschen über sich selbst hinaus, einen Tod für sein persönliches Wesen und eine Wiedergeburt in einer neuen Sphäre, wie dies wörtlich gemeint in gewissen antiken Mysterien dargestellt wurde.“[136] Diese Aussage erlaubt, den zweiten großen Komplex, der die vieldeutigen Verbundenheiten der vordergründig antinomischen Begriffe Leben/Tod und Apokalypse/Utopie illustrieren soll, anzuknüpfen: die namentlich genannten Figuren. Nach allem bisher Ausgeführten liegt es nahe, sie zumindest überwiegend als Identifikationsgestalten zu betrachten. Am Beispiel der Titelgestalt eines Gedichtes läßt sich dies durch eine Briefstelle Trakls leicht nachvollziehen: „Ich werde endlich doch immer ein armer Kaspar Hauser bleiben.“ (S. 275) Das „Kaspar Hauser Lied“ (S. 53 f.) bedichtet eine Figur, die, der Natur und dem Göttlichen nahe, zu einem wahren Menschen reift:
Der letzte Vers läßt, wenngleich das Gedicht ansonsten musikalischer Anspielungen entbehrt, an Orpheus denken. Außerdem läßt die Titelgestalt sich durch unter dem Aspekt der Ich-Aufsplitterung genannte Vokabeln wie ‘Einsamer’ und ‘Abgeschiedener’ charakterisieren. Daher gehört Kaspar Hauser mehreren Ebenen an: „Er tritt uns als vordergründiges Geschichtliches entgegen. Er ist Figur für mehr: für den Menschen, für den Dichter, über welche beide das Kaspar Hauser Lied vieles sagt, welche beide in ihm enthalten sind.“[137] Wichtig zu erwähnen ist weiterhin sein Anheimgefallensein an den Tod, der hier, wie sonst kaum bei Trakl, den historischen Begebenheiten gemäß als Mörder auftritt. Doch wird Kaspar Hauser durch das Paradox des einzelnstehenden Schlußverses in die Motivik der oben diskutierten Nähe von Leben und Tod integriert:
Bolli zählt einige „dichterische Leidensgenossen“ des anschließend ausführlicher zu diskutierenden Elis auf („Helian, Orpheus, Kaspar Hauser, Sebastian, die Schwester“), um über sie treffend anzumerken: „Auch bei ihnen ist eine starke Anteilnahme und teilweise Identifikation des dichterischen Ich erkennbar.“[138] ‘Sebastian’ ist ebenfalls auf eine historische Gestalt, einen christlichen Märtyrer, zurückzuführen; dem entsprechend lauten zwei Verse:
Außer zweimal im Nachlaß taucht er nur in „Sebastian
im Traum“ (S. 50 ff.) auf, dessen Wahl zum Gesamttitel von Trakls zweitem
Zyklus ihn hervorhebt. In diesem Gedicht tauchen neben ‘Kindlein’ und
‘Knabe’, der Figur gemäß, besonders viele christliche Begriffe auf; die
Wiedergeburts/Auferstehungs-Symbolik ist in ihm durch den schon zitierten
Vers „Ein blauer Falter aus der silbernen Puppe kroch“ präsent. „Im Gedicht
‘Sebastian im Traum’ sind biblische Geschehnisse im Umkreis der Geburt
Jesu kaum unterscheidbar verwoben mit Erinnerungen Trakls an die eigene
Kindheit im familiären Kreis in Salzburg. Christus und Dichter überlagern
sich in der aus der Sebastian-Legende beigezogenen Gestalt des Sebastian.“[139] So fruchtbar diese Figuren auch für Polyvalenz, Phantasie und Anspielung sein mögen, es darf nicht vergessen werden, daß bei der Auswahl dieser Namen Trakl sicher auch von ihrem Wohllaut geleitet worden ist. Gemahnt uns dies, sie nicht mit Bedeutungen und Assoziationen zu überfrachten? Allerdings verweisen sogar Figuren, die im Werk nicht namentlich genannt sind, auf den gleichen mythologisch-archetypischen Urgrund. Bei den folgenden Versen an Ixion zu denken, „der von Zeus auf ein Feuerrad geflochten ward, weil er sich die Zuneigung Heras erschleichen und sich ihrer rühmen wollte“[141], ist sicher nicht falsch:
Diese Spur intensiviert sich noch, wenn wir in tiefere mythologischen Schichten vorstoßen: „Ixions Feuerrad ist ein Symbol der Sonne.“[142] Dies koinzidiert mit ‘der runde Tag’, der neben dem ‘Rad’ im Vers steht und ordnet Ixion ebenfalls den Sonnenheroen und leidenden Sakralkönigen zu: „In ritueller Ehe heiratete er die regenbringende Mondgöttin. Dann wurde er gegeißelt, auf daß sein Blut und sein Samen die Erde befruchte.“[143] Vermitteln diese Bezüge jenen recht änigmatischen Versen nicht ein erstaunliches neues Verständnisfeld? Einen Seitenblick lohnt auch einer der berühmten Sätze Rainer Maria Rilkes: „Trakls Gestalt gehört zu den linoshaft mythischen (...).“[144] Wenngleich die in der griechischen Mythologie uneinheitliche, mehrgeteilte Kind-Gestalt des Linos bei Trakl nicht erscheint, eignen ihr doch einige signifikante Eigenschaften: „Es (=das Kind Linos) wurde von Schafhirten gefunden und aufgezogen, später aber von der Dogge des Krotopos in Stücke gerissen.“ Neben seinem grausamen und unschuldigen Ende muß vor allem Folgendes dargetan sein: „Linos war der größte Musiker, der je unter den Menschen erschien“ und wurde auch als „Bruder des Orpheus“ bezeichnet[145]. Als letzte dieser Figuren soll ‘Elis’ wegen seiner bevorzugten Stellung im Gesamtwerk genauer beleuchtet werden, ohne ihn in ein allzu klares Licht stellen zu wollen, was die Dichtung offensichtlich nicht intendiert. Dies betrifft vor allem seine Etymologie; außer dem Verweis auf die Landschaft des Peloponnes, die auch in Hölderlins „Der Einzige“ genannt ist,[146] und der mythischen Rolle Endymions in derselben beläßt das Wort ‘Elis’ seine Herleitung im Dunkeln, so daß wir uns, da seine Mehrdeutigkeiten aufgezeigt sind, an weiteren Spekulationen nicht beteiligen wollen. Elis ist die Titelfigur gleich zweier Gedichte, von denen das eine, „An den Knaben Elis“ (S. 15 u. 47 f.) als einziges in die Sammlungen „Gedichte“ und „Sebastian im Traum“, wo ihm unmittelbar „Elis“ folgt, aufgenommen ist. In jenem wird der als Ich-Figuration unter 4.1 besonders in „Traum und Umnachtung“ schon hervorgetretene Knabe, ausnahmsweise mit Namen, durch die Amsel in den oder zum ‘Untergang’ gerufen, der in seiner Polysemie bereits in 3.1.2 angesprochen wurde. Die zweite Strophe
verweist deutlich in den mythischen Bereich. Dies bestätigt sich noch durch einen der wenigen Verständnishinweise, die von Trakl zu seinem Dichten überliefert sind. Er schreibt zu dem, mindestens zweideutigen, einleitenden ‘Laß’ in einem Brief an seinen Verleger: „Das ‘Laß’ hat hier die Bedeutung von ‘dulden’" (S. 300), rückt es also mehr in die Richtung von ‘laß zu’ als ‘laß ab’ im Sinne von ‘vermeide’; dies impliziert eine Abkehr vom Intellektuell-Rationalen, bietet aufgrund der blutenden Stirn fast eine Ausflucht an. „Das Sterben des Elis ist deshalb verbunden mit dem Untergehen seines Bewußtseins zugunsten eines Eingehens in einen Zustand inniger Fühlung und Teilnahme an allem, was gewesen ist und noch sein wird.“[147] Da er mit ‘weichen Schritten’ in die so erreichte Sphäre, die ‘Nacht’, gelangt, dürfen wir uns an diese als das Schöpferische im oben angeführten keltischen Sinn erinnern. Die ‘Trauben’ lassen an eine der bereits genannten sterbenden und utopisch revitalisierten Gestalten denken: „Jede Schwere des irdischen Lebens und Qual des Sterbens scheint abgelegt und der ‘andere Zustand’ (...) trägt die Merkmale dionysischer Lebensfülle.“[148] Wenn ‘ein Dornbusch tönt’, sind hingegen biblische Assoziationen um Moses, aber auch Jesus zu präferieren. Bei dem dann eingeschobenen Vers
scheint verstärkt die Umdeutung des Todes als Keim neuer Lebendigkeit betont zu sein; Elis findet sich, verstorben und dennoch oder gerade trotzdem wandelnd, in einer positiv dargestellten Sphäre wieder. Dies bestätigt sich, wenn sein ‘Leib’ als ‘eine Hyazinthe’ angesprochen wird, die als Blume bei Trakl kaum vorkommt, oftmals hingegen als positiv-konnotiertes Farbadjektiv gemäß deren Besonderheiten, die unter 3.1.3 dargestellt worden sind. Der bei Trakl nicht erwähnte Hyazinthos ist neben dem einmal als ‘Narziß im Endakkord von Flöten’ (S. 24) eingebauten einer der früh umgekommenen schönen Jünglinge der griechischen Mythologie, die - namensspendend - in Blumen verwandelt respektive als solche wiedergeboren wurden. Schließlich darf bei der ‘schwarzen Höhle’, aus der ‘bisweilen ein sanftes Tier tritt’, wie schon unter 3.1.3 einmal - dort allerdings war sie blau - an einen Uterus gedacht werden; schwarz stimmt hier zur fruchtbaren Sphäre der Nacht. Der mit derselben Farbe belegte Tau, der zudem mit ‘dem letzten Gold verfallener Sterne’ identifiziert ist, sollte nach alledem durchaus auch als Besamender vorgestellt werden. Ohne dies Gedicht mit den genannten Details monosemieren zu wollen, fällt dennoch die Fülle der mit Wiedergeburt konnotierbaren Gestalten und Motive auf. Dies bestätigt sich auch im „Elis“-Gedicht (S. 48 f.), wo außer dem in seiner Symbolik bereits unter 2.2 erwähnten ‘Ölbaum’ noch diese Strophe steht:
Die morbide Darstellung des ‘Baumes’ sowie die dennoch den Keim des Lebendigen wahrenden ‘Früchte’ koinzidieren mit dem Bedeutungsspektrum ihrer jeweiligen Farben, wie wir es im „Rondel“ unter 3.2.1 demonstriert finden. Für den bisherigen Gedankengang ist jedoch dies eminent: „Daß in diesem Gedicht eine Identifikation mit Elis angestrebt ist, wird aus der über das ganze Gedicht hinweg aufrechterhaltenen, mit der Vertrautheit eines Eingeweihten formulierten direkten Anrede ersichtlich.“[149] Zu ergänzen ist, daß einmal die erste Person Plural, ‘eine schwarze Höhle ist unser Schweigen’, verwendet wird, was, wenn aus selbiger ‘bisweilen ein sanftes Tier tritt’, nach dem oben Gesagten schier auch erotische Zeugung mitschwingen läßt. Nach alledem ist es, legt man ihn nicht einseitig darauf fest, legitim, Elis als utopisch-mythischen Führer in ein jenseits der modernen Zivilisation imaginiertes neues Zeitalter aufzufassen, wie dies Heidegger tut: „Diese Sprache singt den Gesang der abgeschiedenen Heimkehr, die aus der Späte der Verwesung in die Frühe des stilleren, noch ungewesenen Anbeginns einkehrt. In dieser Sprache spricht das Unterwegs (...).“[150] Die von ihm einleuchtend als Ort im Sinne von Grundbefindlichkeit der Gedichte bezeichnete ‘Abgeschiedenheit’ erfährt so, neben dem Euphemismus für ‘Gestorbensein’, ihre Vermehrdeutlichung. Unser Elis betreffendes Schlußfazit ziehen wir jeoch mit Bolli: „Elis ist die Personifikation einer eminent dichterischen Gottesvorstellung, in der christliche und orphische Züge erkennbar sind.“[151] Festzuhalten bleibt, daß jene aus ihrer Todgeweihtheit in utopische Revitalisierung weisenden Figuren, deren häufige Herkunft aus griechischen Mythen auffällt[152], lyrisch das nach Identifikationen suchende Ich inklusive des persönlichen Schicksals Trakls aufnehmen, was zumindest partiell gilt und einen über das Bewußtsein hinausgehenden, archetypischen Aspekt birgt. Ihre Verwendung geschieht in multideutigster Bezogen- und Verflochtenheit untereinander; sie erscheinen daher weniger als Figuren, sondern eher als Figurationen des Archetyps des leidenden Jünglings, eines dem Tod geweihten Gott-Menschen, Heiligen, mythischen Heroen respektive Sakral- oder Heiligen Königs. In seiner Gesamtheit bietet dieser Komplex, der wie gezeigt durch die Auflösung des Ichs in Lyrik erwächst, die Möglichkeit, vermittels empathischer Expansion auf einer anderen, höheren Ebene zu integrieren, ja zu kosmisieren. Vor allem fungiert die Dichtung in dieser Hinsicht als Seismograph, der den exemplarisch ge- und ertragenen Schmerz[153] aller Welt wiedergibt. Dies führt uns endlich zu der schon vielfach angeklungenen Christusgestalt, aber auch zu Dionysos. Schon Hölderlin rückt den Letzteren, hier mit einem Beinamen bezeichneten, in die Nähe des Ersteren:
Die Namen Jesus und Dionysos kommen im Gesamtwerk - außer wenige Male in Jugenddichtungen - nicht vor; ähnliches gilt für den ‘Nazarener’ und Christus, der allerdings in der verfremdenden Schreibung „Kristus“ in den beiden Vorfassungen des Gedichtes „Passion“ (S. 215 u. 218) erscheint. Oftmalige namentliche Nennung erschiene wahrscheinlich überflüssig und würde wegen ihrer vereinseitigenden Tendenz die polyseme, kosmisierende Komplexität Trakls zu zerstören drohen. Der eschatologisch-utopisch aufgefaßte Christus ist quasi in die bisher diskutierten Figuren - also auch auf das im Lyrischen gelöste Ich und in Trakls Schicksal - emaniert. All dies verwandelt sich in der Dichtung gegenseitig an, wie dies bei Dionysos und Orpheus schon gezeigt wurde; doch gilt auch: „nie ist Orpheus ganz Orpheus, er zielt darauf, auch Christus zu sein oder der Dichter.“[155] Aufschlußreich hierfür ist auch dieses nachgelassene Fragment:
Christus zugehörige Bilder durchziehen das Werk: vom Kreuz[156] über den ‘Hirten’ bis zu ‘Brot und Wein’, der gleichzeitig auf Dionysos verweist, welcher wie Christus grausam umgekommen und wieder erstanden ist. Zusätzlich ist er in oftmals auftauchenden Begriffen aus dem Feld um ‘trunken’, ‘Rausch’, ‘Umnachtung’ sowie in ‘Trauben’, ‘Weinberg’ und ‘Efeu’ präsent. |
Die Vielfalt der zusammengeführten Gegensätze in Weltanschauung und Wirklichkeit führt uns noch zu der Beobachtung, daß in den ausgebreiteten, von Christus und Dionysos umrahmten Gestalten auch die Grenzen zwischen Mensch und Göttlichkeit verwischt sind. Sie stellen - damit den unter 2.1 angesprochenen geopferten Sakralkönigen zugehörig - menschliche Götter respektive vergöttlichte Menschen dar, deren Eltern jeweils ein männlicher Gott und eine menschliche Frau sind. Nebenbei bemerkt integriert sich das Christentum somit wieder in die heidnischen Mythen, denen es fast alle seiner Symbole ursprünglich verdankte.[157] Außer in Mythos und Religion findet sich das Motiv des Gottmenschen in der Literatur, wozu sich Hölderlins Hyperion als Beleg anbietet: „Der Mensch ist aber ein Gott, so bald er Mensch ist. Und ist er ein Gott, so ist er schön. (...) Denn im Anfang war der Mensch und seine Götter Eins (...).“[158] Als Archetypen wiederum hat ihn durch die Betrachtung einiger nichtchristlicher Religionen Jung identifiziert, von dem zusätzlich die unter 2.2 zitierte Aussage von der Seele als in alter Anschauung göttliches Wesen einzubeziehen ist: „Im Gegenteil bestehen sie, wie es auch gewisse christliche Mystiker tun, auf der wesenhaften Identität von Gott und Mensch (...)“[159] Um auf unseren Ausgangspunkt Mehrdeutigkeit zurückzukommen, muß die grundsätzliche Dreideutigkeit all dieser ‘sterbenden Jünglinge’ hervorgehoben werden: Sie beschwören eine als mythisch-religiös-archetypisch zu umreißende Dimension, sie liefern ein Bild für Trakl als Individuum[160] und sie markieren ein Fanal für seine im ersten Weltkrieg dahingemetzelte Generation. Erschließt sich uns so nicht sein Schicksal durch den Archetyp des geopferten Jünglings, avisiert er nicht - oder stilisiert er sich nur? - selbst zu einem der das Leid der Welt tragenden und für den Erhalt ihrer Erneuerungskräfte sterbenden Christusse?[161] Eine Antwort sei anheimgestellt, doch mögen zwei Verse und der abschließende Aphorismus in Erinnerung gerufen sein:
Können wir all diese Anverwandlungen und empathischen Kosmisierungen Trakls nicht als Herbeibeschwören - was oftmals auch seinen Duktus bestimmt - einer Sinngebung der von ihm avisierten Apokalypse verstehen? Ob utopisch oder als magisches Opfer zum Zweck vegetativer Revitalisierung: Tod und Fruchtbarkeit in ihrer Wechselwirkung sind ein uraltes wie auch Traklsches Thema; völlig der Entwicklung von jenem zu dieser ist sein frühes, nachgelassenes Gedicht „De profundis“ (S. 151) gewidmet, von dem nur der erste und letzte Vers zitiert zu werden brauchen:
Es paßt in diesen Rahmen wie zu Trakls Todessehnsucht, daß manche der bisher in diesem Kapitel in Gefolge des Todes auftauchenden Bilder verlockend klingen:
Da hier keine himmlisch-elysischen Jenseitsimaginationen vorliegen, dürfen wir nochmals an eine mit Trakl eher gleichklingende Mythologie denken: „Der Tod, und was auf ihn folgt, ist für die Kelten das ‘Wunderbare’.“[162] Längst ist nach alledem ein wieder mit Magie - in diesem Fall eine revitalisierende - zu benennender Faktor bei Trakl aufgefallen, der in seinem Dichten und Schicksal nachvollziehbar ist. Man darf, thematisch und durch den trakltypischen Duktus begründet, von einem „(...) Rückzug der Poesie in die urältesten Anfänge: in das rätselhafte Sprechen, welches das Geheimnis lebendig bestehen läßt“[163] reden. Der Begriff ‘Rückzug’ postuliert dabei allerdings in unserem dem Fortschritt huldigenden Jahrhundert eine einseitige und zur Negativität neigende Wertigkeit. Trakl hat magische Saiten der Sprache in originären, für sein Jahrhundert gültigen Sprachformen aufklingen lassen, ohne sich im geringsten auf das Niveau nostalgischer Imitate zu begeben, die auf artistische und/oder ersatzreligionsstiftende Effekte hin kalkuliert zu sein pflegen. Von welchem Belang wäre es, eine solche Leistung als progressiv oder regressiv einzustufen? Doch verbleibt eine weitere, den diskutierten zuzuordnende Gestalt, die mehr den Eros ins Blickfeld rückt. |
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Fußnoten: [124] Dazu
bemerkt treffend Simon: Traum und Orpheus, S. 51: „Der Krieg wird dort
von seiner historischen Faktizität abstrahiert, als kosmisches Geschehen
geschaut, er wird zum Symbol der leidenden Geschöpflichkeit überhaupt.“
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