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4.2 |
4.3 Die Jünglingin
Wer sich der ‘Schwester’ - als letzter der sich aus dem Gedankengang der vorherigen Kapitel aufdrängenden Gestalten - zu nähern versucht, wird stets der Gefahr ausgesetzt sein, Trakls Biographie heranzuziehen. Dessen ungewöhnliches Verhältnis zu seiner Schwester Grete liefert allerdings nur eine Dimension, mit welcher man die Komplexität der ‘Schwester’ der Dichtung auszuloten vermag. Eine der Untersuchung von Mehrdeutigkeit gewidmete Arbeit muß daher schon aus kompensatorischen Gründen den in dieser Hinsicht quasi ausgetretenen biographischen Aspekt eher in den Hintergrund plazieren. Dessen Bedeutung für Trakl und seine Ausstrahlung auf das Werk hat Basil eindrucksvoll formuliert: „Trakls Schwester Grete ist eine interessante, ja singuläre Erscheinung; der dunkle Glanz ihres Geschlechts erhellte - oder verfinsterte - die Seele des Dichters. Sie ist Hauptakteurin auf der Bühne seines Lebens und in seiner Phantasie, er hat sie in eine Sagengestalt verwandelt, er mythisierte sie und verbarg im dichterischen Gleichnis ihrer beider dämonische Sinnlichkeit, indem er sich und sie zu einem Zwiewesen verschmolz (...): Jüngling und Jünglingin, Fremdling und Fremdlingin, Mönch und Mönchin.“[164] Um zu einigen der hier genannten Punkte hinzuleiten, sei folgende Stelle gewählt:
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Ohne die in der Einleitung erwähnte physiognomische Ähnlichkeit Georg und Grete Trakls unterschlagen zu wollen - paßt diese Stelle nicht noch mehr in den Rahmen der unter 4.1 und 4.2 erörterten Ich-Auflösungen, Identifikationsfiguren und Doppelgänger? ‘Er’ meint hier den Knaben-Protagonisten aus der Prosadichtung „Traum und Umnachtung“, in welcher uns zweimal der Wolf begegnet ist, der in seiner diesbezüglich aufschlußreichen Rolle bereits unter 4.1 diskutiert wurde. Damit ist aber schon klar, daß Identifikation und Vereinigung mit der Schwester zusätzlich, ja hauptsächlich einem erotischen Antrieb entspringen, was - außer vielleicht in der im letzten Kapitel entdeckten Andeutung in Zusammenhang mit ‘Elis’ - bei den männlichen Figuren ausgeschlossen ist. Es wirkt wie schuldbeladene Scheu, wenn positive Seiten der Erotik nie direkt um das Wort ‘Schwester’ auftauchen, sondern - anonymer - den ‘Liebenden’ vorbehalten bleiben.
Solch ungetrübte Harmonie ist allerdings selbst im Zusammenhang mit Liebe selten. Der erotischen Attraktivität von Dichter/Bruder und Schwester eignet zumeist unentrinnlich eine abgründige, gewalt- und schuldhafte Dimension, wie der nächste Auszug - zusätzlich nochmals die persönliche Identifikation illustrierend - zeigt:
Durch das ihr öfter zugeschriebene ‘strahlend’ sowie durch das Wiedererkennen des ‘Antlitzes’ ist die Schwester, ohne unmittelbar genannt zu werden, deutlich präsent. Doch kann das ‘schweigende Kind’ und die ‘schmale Gestalt’ andererseits - wenn auch selten und nirgends wie an der folgenden Stelle - eine fast infernalische Bedrohung einflößen:
Häufiger ist, wie schon angedeutet, ihre Umschreibung mit kindlichen, manchmal knabenhaften Eigenschaften sowie mit der Sphäre von Herbst und Thanatos. Damit rückt sie in die Nähe der sterbenden und wiederbelebten Jünglinge, mit denen sie hier - zumindest auf seelenwirklicher Ebene - identifiziert erscheint:
Schon im letzten Kapitel hatte sie ein Bolli-Zitat mit mythischen oder mythisierten Figuren wie Elis, Kaspar Hauser und Orpheus parallel gesetzt. Bei einer weiteren geschieht dies in einem nachgelassenen Gedichtkomplex nahezu explizit:
In dem unter 3.2.1 angeführten Gedicht „An die Schwester“ (S. 32) wird sie - neben ihrer zauberischen Beziehung zu ‘Herbst und Abend’ - durch die Anrede ‘Karfreitagskind’ sogar zur Christusgestalt[165]. Doch ist dies nur eine aus einem Komplex möglicher Deutungen: „Sie ist ein Karfreitagskind, und ich möchte vermuten, daß dieses Wort ebenso kalendarisch als übertragen zu deuten ist. Am blutigsten und opfervollsten Tage des Jahres ist sie geboren, und das hat sie bestimmt.“[166] Doch erschöpft die ‘Schwester’ sich weder in solchen Identifikationen noch als erotisches Gegenüber oder Ineinander unter dem Schatten des Inzests. Durchaus und nur menschlich ist sie uns beispielsweise im Gedicht „Unterwegs“ (S. 46) unter 3.2 begegnet:
Außerdem kann sie mit den Stimmen der Natur und Übernatürlichem kommunizieren:
Zu diesen - den Umfang ihrer Mehrdeutigkeiten in etwa absteckenden - Erscheinungsvarianten der ‘Schwester’ tritt die alledem innewohnende, grundsätzliche empathisch-partizipierende Komponente, die am eindringlichsten diese Stelle wiedergibt:
Wie bei Trakl wohlgewohnt, muß das Wort ‘Schwester’ desweiteren in seiner grundsätzlichen - sprachlichen und archetypischen - Ambiguität erwogen werden, die über jedes leiblich-weibliche Geschwister hinausragt. Über Krankenbetreuerin und Ordensfrau hinaus fungiert ‘Schwester’ als Metapher für jedes innige Verständnis und Bekanntsein; „daß hier wie zum Fremdling die Fremdlingin, zum Jüngling die Jünglingin, so zum Mönch nicht die Nonne, ein Wort anderen Stammes, sondern die geschwisterliche ‘Mönchin’ gehört, ist eine der tiefsten und seltsamsten Eingebungen Trakls.“[167] Welche Bedeutungsweiten eröffneten sich somit der Traklschen ‘Schwester’ noch, dominierte im patriarchalen Abendland nicht allzusehr die Brüderlichkeit? Jedenfalls ist ihr - bei aller Kosmisierung - auch die Sphäre eines persönlich gegen- und ebenbildigen Wesens eröffnet: „Im Schwesterlichen erscheint das Weibliche nicht primär als Sexualpartner, geschweige denn als Sexualobjekt, sondern als das andersartige Du, das gerade in seiner Andersartigkeit ‘seelenhaft’ ist.“[168] Müssen uns bei diesen mannigfaltigen Koinzidenzen und Anverwandlungen nicht Bisexualität und Hermaphroditismus einfallen? Durch und in Eros und Thanatos sind Schwester und Bruder/Dichter in polyvalentester Weise gemeinsam betroffen, einverständig, vereinigt und identifiziert. Auf die schon in 4.2 zitierte Strophe aus „Abendländisches Lied“ - wo bei Trakl singulär die graphische Hervorhebung ‘ein Geschlecht’ zu finden ist - gründet sich diese Feststellung: „Der Mythus vom androgynen Urmenschen, in der Literatur um 1900 recht verbreitet und als Motiv beliebt zur Darstellung eines vollkommenen, ungespaltenen Menschseins, mußte für Trakl infolge seiner persönlich-biographischen Voraussetzungen eine besondere Aktualität erlangen.“[169] Dieses Phänomen beschreibt der schon wiederholt zitierte C.G. Jung-Schüler Erich Neumann auf Geschwisterliebe eingegrenzt und für unseren Zusammenhang tiefer lotend: „In dem Leben dieses transpersonal Geschwisterlichen, das noch nicht durch das Bewußtseins-Ich auseinandergebrochen ist, sind Innen und Außen, Ich und Du noch eines. Darum ist die Schwester sowohl innen wie außen, lebt als Schwester im Hause der Kindheit ebenso wie im Blau der Seele.“[170] Somit ergründet uns diese engste Form der Geschwisterlichkeit ein zusätzliches Segment von Expansion und/oder Regression des in Lyrik aufgelösten Ichs, wie es in 4.1 vorgestellt wurde.[171] Nach der bisher dargestellten Vielfalt jener Erscheinungsweisen und Identifikationen ist erst das Gewicht spürbar, das die ‘Schwester’ in der all dies vereinigenden Gestalt folgender Versen gewinnt:
Trotz des schier ironisierenden ‘Hausflurs’ ist dieser Auftritt in seiner Imposanz nur mit dem einer Königin oder Göttin vergleichbar und/oder wäre - mit Jung und Neumann - als Projektion der Anima zu begreifen. Jedenfalls umschließt sie als ‘Jünglingin’ die polare Weite, die ihr sonst zwischen Kind und Dämon angedichtet wird. Die schon durch die Parallele zu den ‘sterbenden Jünglingen’ bewirkte apotheosierende Mythisierung der Schwester ist hier noch durch einen weiteren Punkt ausgedrückt: „In der ins Mythische übergehenden Dichtung Trakls wird die Schwester zum Nächtlich-Weiblichen und zum Mond (...) - Die Schwester aber wird (...) zur ‘Weißen’, sie wird zum Leuchtenden, zur ‘Mondin’.“[172] Ähnlich, nur umlautend ‘Möndin’, erkennt sie auch Heidegger[173]. Allerdings wäre es falsch zu behaupten, Trakl idealisiere damit die ‘Schwester’, ist sie doch nur in Verbindung mit Gefährdung, Verfall und Thanatos zu solch archetypischer Größe befähigt respektive wohnt den um sie und in ihr erwachsenden Mythen auch Schmerz und Opferung inne. Ihre Verbindung zu, ja Durchdrungenheit mit Mond[174] und Wasser[175] - welches wir unter 3.2 in seiner musikalischen Komponente kennengelernt haben - sei an zwei Stellen belegt:
Am Beginn des Gedichtes „Der Abend“ (S. 89) fungiert der vertraulich angeredete Mond sogar als Ursprung von ‘Heldengestalten’ - die wir als eine mögliche Deutung dem Bereich der ‘sterbenden Jünglinge’ zuordnen dürfen - und ‘Liebenden’:
Letztere kehren am Ende nochmals in Verbindung mit Wasser, dem „mütterlichen Ort des Unbewußten“[176], wieder:
Ein Seitenblick muß auch dem ‘Bruder’ gewidmet werden, dessen Vorkommensweisen keineswegs nur zur Schwester in Parallele stehen. Doch muß bei jeder Verwendung dieses Wortes, neben einverständiger Bruderschaft im metaphorischen und religiösen Sinn, auch die ‘Schwester’ impliziert werden, zumal er so charakterisiert ist:
Doch sollen seine weiteren Polyvalenzen nicht Gegenstand der Erörterung sein. Ein interessanter Interpretationsansatz ergibt sich noch für das Gedicht „Untergang“ (S. 63 f.), in welchem dreimal ein Pronomen der ersten Person Plural verwandt ist:
Wo nicht schon der erste, so evoziert der zweite Vers die ‘Liebenden’, die in dem im nächsten Kapitel behandelten „Abendland“ noch expliziter mit dem ‘Kahn’ verbunden sind. Da nun „Untergang“ aber mit den großartigen Versen
endet und sonst keinerlei Personen aufzuspüren sind: Müßte es nicht einmal als aus der Perspektive der Schwester gesprochen gedeutet werden, trotz der vielleicht nur als Larve für dies problematische Verhältnis dienenden Widmung an den - wiewohl Trakl brüderlich zugetanen - Dichter-Freund Karl Borromaeus Heinrich? Jedenfalls ergreift sie in „Offenbarung und Untergang“ (S. 95) dezidiert das lyrische Wort, wodurch diese Vermutung nicht auf eine einmalige Ausnahme hinausliefe. Ein weiterer bei diesen Gedankengängen naheliegender Punkt soll nicht vergessen sein: Wenn auch weniger als männliche, gibt es auch mythische und namentlich genannte weibliche Identifikations- respektive Projektionsfiguren. Sie erscheinen in einer der Schwester verwandten Weise und seien - unvollständig - aufgezählt: Sonja, Afra[177], Eva, Maria[178], die Magd und Nymphen. Auf die Diskussion der Bedeutung des Weiblichen im Gesamtwerk und seine Ambivalenz muß der Stringenz der Abhandlung zuliebe verzichtet werden. Die Figurationen um ‘Mutter’, welche ebenfalls Anteil an der Anima haben, und ‘Schwester’ weitergehend in ihrer Mehrdeutigkeit oder überhaupt heranzuziehen, lieferte Stoff für eine eigene Arbeit. Ohne sie detailliert belegen zu wollen, sei jedoch auf eine Beobachtung hingewiesen: Die meisten der aufgelisteten Gestalten treten hauptsächlich in Trakls frühen Werken auf und avisieren manche Elemente der später mehr und mehr an ihre Stelle tretenden Schwester. Könnten wir nicht denken, Trakl habe sich erst langsam durchgerungen, sie beim Namen zu nennen und nicht weiter hinter Figurationen wie den genannten zu verstecken? Eine erstaunliche Komprimierung vieler der erwähnten Mehrdeutigkeiten von ‘Schwester’ bietet der letzte Satz der schon mehrfach zitierten Prosadichtung „Traum und Umnachtung“:
Den Kulminationspunkt markiert ‘Geschlecht’ in seiner mehrfach dargetanen Polysemie; so hoffnungslos und endgültig dieser Schluß anmutet: Müssen wir uns nicht an die ‘Nacht’ als - zumindest bei den Kelten - das Schöpferische, Revitalisierende erinnern? Dazu gehört auch der Mond in seiner mythischen Symbolik sowie seine enge Verbindung zum Wasser, dem Element des Lebens. Deswegen nimmt es nicht Wunder, im Bereich der ‘Schwester’ und der ‘Liebenden’ wiederum Indizien für Verwandlung, Wiedergeburt und Auferstehung anzutreffen:
In enger Fügung zu einigen der angesprochenen Aspekte zeigt sich dies auch in zwei nachgelassenen, späten Strophen:
Abschließend sei nochmals die mythisch-archetypisch-widersprüchliche Weite der Schwester mit Neumann zusammengefaßt: „Die Schwester verbindet in ihrer Anfang und Ende enthaltenden Gestalt immer ein Doppeltes und Gegensätzliches in sich: sie ist Liebe und Tod, Jüngling und Jünglingin, Nächstes und Fernstes, ‘flammender Dämon’ und ‘Fremdlingin’ zugleich.[179] Aus ihrer unleugbar eminenten Bedeutung für Person und Dichtung Trakls gewinnt Basils Beobachtung ihre Evidenz: „Als er sich von seinem Gott verlassen sah (...), als dieser Gott sich im galizischen Schlachthaus in Nichts auflöste, blieb ihm die Schwester als einzige sinnvolle Realität. An Trakls Ende steht nicht eine Fiktion, sondern ein Mensch!“[180] Doch ist dieser Mensch - im Jungschen und dem kosmisierenden und mythisierenden Sinne Trakls -, mehr als eine Frau und ein Individuum: Sie ist leibhaftige Anima und/oder Göttin im Sinne der im letzten Kapitel dargestellten Annäherung und Identifikation von Mensch und Gott. Basil verweist uns auf die Gedichte „Klage“ (S. 94) mit dem oben schon erwähnten Vers „Schwester stürmischer Schwermut“ - in dessen Gefolge bezeichnenderweise wieder ein ‘Kahn’ erscheint - und noch mehr „Grodek“ (S. 94). Dort taucht sie zwar nicht prunkvoll wie eine Göttin, so aber doch - an das oben besprochene „Der Abend“ erinnernd - mit Attributen des Lebens und des Schöpferischen versehen und als quasi letzter Gedanke und Psychopompos im Kriegsgemetzel auf:
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4.4 Eros und Thanatos in „Abendland“ Die Darlegungen zur Mehrdeutigkeit von Trakls Poesie beschließend, wollen wir wieder zum Ausgangspunkt zurückkehren: der Diskussion eines Einzelgedichtes. Auf diese Weise mag sich erweisen, ob die gewonnenen Verfahrensweisen anwendbar und die Erkenntnisse tragfähig sind. Daher erübrigt sich auch die Benutzung von Sekundärliteratur nahezu völlig. Ein Werk, das vieles des bisher Gesagten, besonders Eros und Thanatos betreffend, konklusionsartig umfaßt sowie einige Ergänzungen unserer bisherigen Gedanken erlaubt, drängt sich dabei auf. Es soll anhand der Verflochtenheit von Leben und Tod mit einem Schwerpunkt auf den mythischen Bezügen kommentiert werden.
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Dieses triadische, in der Weite seiner Themen, Schauplätze und unterschiedlichen Wirklichkeiten teilweise schroff gefügte Gedicht duldet keine Bändigung in regelmäßige Strophen und Metrenformen. Dennoch wirkt es als Ganzes weder dissonant noch unharmonisch, wobei, wie schon vielfach dargelegt, Wohlklang der Wörter, Melos und Rhythmisierung die das Gegensätzliche zusammenhaltende, unverwechselbar Traklsche lyrische Musik evozieren. Schon der Titel strotzt geradezu vor Mehrdeutigkeiten, die dann alle in mehr oder weniger großem Umfang aufgegriffen werden. ‘Abendland’ läßt zunächst an den geographischen und kulturellen Raum, den Okzident, eine bis in die Gegenwart reichende historische Epoche denken; in diesen Rahmen gehören auch Person und Werk Trakls, was durch den Vers „unsrer Heimat“ dokumentiert ist. Bei der umfassenden Dimension dieses Begriffes sind Konnotationen und Assoziationen kaum einzugrenzen. Doch außer jener dem Abendland Europa zu Trakls Zeit heraufdrohenden Katastrophe des ersten Weltkrieges - auf die im dritten Teil prophetisch, wenn auch nicht auf sie einschränkbar, referiert scheint - liefert dieses Gedicht, zumindest an seiner Oberfläche, kaum Anknüpfungspunkte zu Abendland als geographisch-historischem Begriff[182]. Es ist hinzuzufügen, daß „Abendland“ eine in Europa denkbare Fauna, Witterung und Landschaft verwendet; den schon erwähnten, hierzu adäquaten Begriff ‘Heimat’ werden die folgenden Aussagen jedoch polysemieren. Die Wörter ‘Abend’ und ‘Land’ müssen in ihrer jeweiligen Grundbedeutung berücksichtigt werden, was für das erstere in seiner immanenten und im Kontext von Trakls Gesamtwerk potenzierten Polysemie bereits unter 3.1.1 geschehen ist. Land, ein bei Trakl seltenes und vergleichsweise unbesetztes Wort, ist außer als geographische Einheit noch in seiner Nebenbedeutung zu erörtern, die als Gegensatz zu Stadt ein naturnah-agrarisches Gebiet meint. Die Antinomie Land-Stadt oder umfassender gesprochen Natur-Zivilisation prägt die Großgliederung von „Abendland“: Ersterer gehören die Teile eins und zwei, letzterer in schärfstem Kontrast Teil drei zu. Die apokalyptischen Schlußverse lassen, blicken wir auf den Titel zurück, eine Wertung vermuten: Die abgetrennten, herausgelösten Städte vergehen, während das Land und seine Lebensquellen, wenn auch nicht unversehrt, erhalten bleiben. Nach alledem ist ‘Abendland’ - insofern es Städte zum Haupt machte - bei Trakl zusätzlich als ein dem Verfall und Untergang preisgegebenes, damit aber auch für dynamische Wandlung und Neubelebung offenes Gebiet zu gewärtigen.[183] Und hat respektive sucht er nicht in einem solchen, von geographischen Dimensionen unberührten, Land seine ‘Heimat’? Im apokalyptischen Gegenbild der ‘großen Städte’ ist markanterweise nur von ‘sterbenden Völkern’ und dem ‘Heimatlosen’ die Rede. Damit ist bereits ein Grundgehalt, ja eine Aussage erschlossen, was an sich bei Trakl etwas ungewöhnlich wäre, hier jedoch sogar klar vermittelt ist. Doch muß das Gedicht detaillierter betrachtet sein, um es nicht mit dualistischen Schlagworten zu verfehlen oder gar seine Komplexität zu annullieren. ‘Mond’, das Eingangswort, liefert eine leitmotivische Saat, die durch das gesamte Gedicht auswächst. Meist mit dem Lebenselixier ‘Wasser’ verbunden, ist der Mond - wegen seiner zyklischen Phasen und Zugehörigkeit zur schöpferischen Nacht - symbolisch als Verkörperung des Lebendigen und des Toten, die einander gegenseitig bedingen, prädestiniert. Da er allerdings nicht in einer seiner Phasen, sondern als solcher angesprochen wird, sollte besonders seine polare Totalität als Keim eines Leitmotives im Gedicht begriffen werden. Die Verflochtenheit von Leben und Tod bestimmt den Tenor schon der ersten Verse, viruliert - wie sich zeigen wird - aber auch im gesamten Gedicht. Dem ‘Mond’ ist - seinen Aufgang verbildlichend und ihn dennoch dem Thanatos einverleibend - „als träte ein Totes / Aus blauer Höhle“ beigefügt. Die ‘blaue Höhle’ ist uns schon als Mutterleibsphantasie begegnet. Der vieldeutige Konjunktiv ‘träte’ - dessen Irrealität zumindest doppeldeutig auf ‘ein Totes’ und das Erscheinen des Mondes beziehbar ist - gemahnt darüber hinaus an die Verschwisterung von Leben und Tod. Er vermittelt ein mehrdeutiges ‘als ob’: als ob es ein Totes wäre, das aus der Höhle träte, als ob es träte oder doch nicht, als ob es ‘Mond’ wäre. „Es fallen der Blüten / Viele über den Felsenpfad“ kongruiert damit, da dies ‘fallen’ ohne die üblichen Präfixe ‘ver’ oder ‘zer’ die Verbreitung von lebensspendendem Samen impliziert. „Silbern weint ein Krankes“ - die in diesem anschließenden Vers als Attribut zum ‘Weinen eines Kranken’ - eines der schon angeführten anonymen Neutra - genannte Farbe evoziert bei Trakl meist transzendierende, un- oder überwirkliche Konnotierungen. Dabei ist der Thanatos-Aspekt zu integrieren, wie z.B. der Schlußvers vom „Kaspar Hauser Lied“ (s. 4.2) erkennen läßt. Bei der syntaktischen Polyvalenz des so anhebenden Satzes, muß das ‘Kranke am Abendweiher’ als Ausgangspunkt und/oder Gemeinsamkeit der ‘Liebenden auf schwarzem Kahn’ respektive etwas von ihnen Zurückgelassenes mitberücksichtigt werden; somit gehört dieses Weinen auch ihnen zu[184]. Daß die Beiden ‘hinüberstarben’, das Imperfekt sie sogar als bereits in die neue Sphäre versetzt vorstellt, ist eine der unverkennbarsten Verweise im Gesamtwerk auf die Relativität und Nicht-Endgültigkeit des Todes. Bestätigt wird dies auch durch das ‘Kahn’-Motiv: Nicht zuletzt durch ‘schwarz’ ist an den Charonkahn, der die Toten in den Hades übersetzt, zu denken. Doch eignet ihm auch etwas Bergendes und Schützendes, er schwimmt auf dem Lebenselement Wasser und ist an manch anderer Stelle ebenfalls mit den Liebenden verbunden (s. 4.3). Zudem kann er als Sichelmond assoziiert werden, zumal er in einem für unseren Zusammenhang eminenten Beispiel auch am Himmel fährt[185]:
Um auf das ‘silberne Weinen’ des ‘Kranken’ und/oder auch der ‘Liebenden’ zurückzukommen: Es ist ein auslösender Faktor, begründet einen motivischen Strang, der das Gesamtgedicht durchzieht und umklammert. Wasser ist in ‘Weinen’ wie dem ‘Abendweiher’ - einem stehenden Gewässer, bei dem dennoch die unter 3.1.1 diskutierte Dynamik von ‘Abend’ sowie des Elementes Wasser zu implizieren ist -, darüber hinaus schon im Mond und wahrscheinlich dem ‘blau’ der ‘Höhle’ präsent. Das ‘Weinen’ wird im zweiten Teil wieder aufgegriffen, wo ‘die kristallne Woge’ - ‘hinsterbend an verfallner Mauer’, was an ‘hinüberstarben’ gemahnt - in einem Versgefüge ohne Interpunktions-Abtrennungen mit ‘und wir haben im Schlaf geweint’ steht. Zu dem, durch das kurz vorher plazierte und schon erwähnte ‘Unsrer Heimat’ vorbereitete, ‘wir’ bietet sich im gesamten Gedicht keine Identifikation als die ‘Liebenden’ an, was die Verbindung von ‘Weinen’ und ‘kristallne Woge’ nochmals stützt. Die Alogik, daß jene eigentlich schon ‘hinüberstarben’, die Auflösung von Wirklichkeit und Kausalität nimmt uns bei Trakl nicht mehr Wunder. Im dritten Teil wird aus dem so begonnenen Leitmotiv dann die ‘bleiche Woge’, eine Vision der Apokalypse. Diese Beziehungen und die Verbindung Kahn-Elis verweisen indessen auf die zweite Strophe zurück. Sie wird mit dem bei Trakl recht seltenen, doppeldeutigen ‘oder’ eingeleitet, was hier wohl eine Parallelität mit dem Geschehen der ersten Strophe anzeigen soll. Hier nun ‘läuten die Schritte’ des mehrfach diskutierten ‘Elis durch den Hain’, in dessen Gestalt Leben und Tod untrennbar verbunden sind. So verhallen die ‘Schritte’ - auch im unter 4.2 besprochenen Gedicht „An den Knaben Elis“ (S. 15 u. 47 f.) ging er „mit weichen Schritten in die Nacht“ - denn wieder, bezeichnenderweise ‘unter Eichen’, die uns in 2.1 in Zusammenhang mit ‘Endymion’ als Baum der ‘sterbenden Jünglinge’ und zu opfernden Sakralkönige begegnet sind. Daß zwischen ‘Hain’ und ‘Eichen’ das Farbwort ‘hyazinthen’ erscheint, bedeutet neben anderem auch eine Verdoppelung des von uns mit ‘sterbende Jünglinge’ benannten Motivs. Da im Anschluß ‘des Knaben Gestalt’ auftaucht, darf diese, allein schon wegen des Gedichttitels „An den Knaben Elis“ mit letzterem gleichgesetzt werden. Von diesen beiden heißt es nun, so phantastisch es klingen mag,: „Geformt aus kristallenen Tränen, / Nächtigen Schatten.“ Letzteres ließe sich von fast allen der vorher im Gedicht erwähnten Dinge und Gestalten aussagen. Elis und Knabe sind damit als Ausgeburten, ja quasi Kunstfiguren gesehen, die aus dem Weinen des ‘Kranken’ und möglicherweise der ‘Liebenden’ hervorgegangen sind. Das rätselvolle, zwischen rein, hart und künstlichem Schliff changierende ‘kristallen’ (s. 3.1.3) ist wiederum das Attribut der ‘Woge’ im zweiten Teil, die in unmittelbarem Kontext des - zumindest auch mit den ‘Liebenden’ zu identifizierenden - ‘wir’ auftaucht. Jedenfalls teilt es die Unwirklichkeit mit dem ‘silbern weint’ der Anfangsverse. Am Ende der Strophe verbleibt „die Schläfe / die immerkühle“, die der Figuration Elis/Knabe zuzuordnen ist und an „Auf deine Schläfen tropft schwarzer Tau“ (S. 15 u. 48) aus „An den Knaben Elis“ erinnert. In Kontrast zu ihrem Attribut ‘immerkühl’ ‘erhellen’ sie ‘zackige Blitze’, die von einem dynamisch-vital gezeichneten ‘Frühlingsgewitter’ herrühren, dem jedoch der zerstörerische Aspekt naturgegeben ebenfalls innewohnt. Die Hinweise auf ein Fruchtbarkeitsritual und/oder Opfer[186] des jungen Halbgottes respektive Sakralkönigs häufen sich, deuten wir auch ‘Totes’ und ‘Krankes’ in diese Richtung und implizieren, daß die geschilderte Jahreszeit auf Mittsommer, dem Datum solcher kultischen Vorgänge, anzuspielen geeignet ist. Die mythische Verbindung von Blitz und Eiche in Zusammenhang mit dem zu opfernden Sakralkönig[187] - also weitere Identifikationspotentiale für Elis, ‘ein Krankes’ und ‘ein Totes’ - könnte nicht treffender als mit folgendem, einem keltischen Gott in den Mund gelegten Vers illustriert werden:
Da der Archetyp dieses Mythos selbst Dionysos und Christus zugrunde liegt, erscheinen diese Herleitungen nicht zu gewagt. Hinzuzufügen ist allerdings, daß zum Vorfeld solcher Rituale auch die ‘Große Hochzeit’, ein Hieros gamos gehört. Dadurch wächst ‘hinüberstarben Liebende’ eine neue Bedeutungskomponente zu: Es darf auch als intensives, kosmisches erotisches Erlebnis verstanden werden. Doch kehren wir, nach diesem Schlaglicht auf eine mythische Deutbarkeit von „Abendland“, zum zweiten Gedicht-Teil und der Chronologie der Kommentierung zurück, ohne jenen Aspekt aus den Augen zu verlieren. An das Ende des ersten Teils, ‘grünende Hügel’, wird direkt angeknüpft: „So leise sind die grünen Wälder / Unsrer Heimat“; wir können wohl vermuten, daß das ‘Frühlingsgewitter’ mit seinem rituellen Hintergrund ein Ende fand. Noch stärker als der erste Teil, dem ebenso eine traumhaft-überwirkliche Dimension innewohnt, ist der zweite in der Sphäre von Natur und Lebendigem angesiedelt Unleugbar ist die Präsenz der ‘Schwester’: Durch ‘Mond’ (s. 4.3) und ‘Liebende’ im ersten Teil vorbereitet, gewahren wir sie nun in den schon andiskutierten Versen „Unsrer Heimat“ und „Und wir haben im Schlaf geweint“. Doch hält nach dem Intermezzo von Frühling und ‘grünen Wäldern’ zwischen Teil eins und zwei wieder der Thanatos seinen Einzug. „Unsrer Heimat“ ist schroff und Identifikation mitimplizierend das, leitmotivisch besetzte, bizarre Bild „die kristallne Woge“ beigefügt. Sollte dies - um ein weiteres Deutungskonzept anzureißen - die Wirklichkeit sein, in welche ‘hinüberstarben Liebende’, so ist sie allerdings neuerlich mit dem Tod verschwistert. Nicht zuletzt durch die Semikolons nach ‘geweint’ und ‘Weinbergs’ wird uns nahegelegt - ohne dies aufzwingen zu können -, den Rest des zweiten Teils mit dem Subjekt ‘wir’ zu denken. So dürfte man einsetzen: Wir „Wandern mit zögernden Schritten“ - was kontrastierend, als ob Elis’ ‘läutende Schritte’ unzulänglich imitiert würden, auf selbigen verweist. Gleichfalls wären „Singende im Abendsommer“ - die als Subjekt dieses in ungefährer Interpunktion verwischten Satzgefüges zu favorisieren sind - als Erscheinungsform von ‘wir’ deutbar, ohne damit etliche andere syntaktische Interpretationsmöglichkeiten leugnen zu wollen. Desweiteren würde ‘wir’ dann zu „Schatten nun im kühlen Schoß / Der Nacht, trauernde Adler“. Das ‘nun’ erwirkt, nebenbei bemerkt, eine zusätzliche Deutungsebene im Sinne von Entwicklung oder gar Verwandlung des ‘wir’. Es sei nicht vergessen, auf die - wie unter 4.2 gezeigt, stets verschleierte und auch Elis immanente - Präsenz des ‘sterbenden Jünglings’ und Halbgottes Dionysos in den Versen „In heiliger Ruh / Des fern verstrahlenden[189] Weinbergs“ zu erinnern. Die demselben eigentlich wenig eigene ‘Ruh’ sowie das Wort ‘fern’ rücken ihn allerdings in Distanz, ‘verstrahlend’ gar in eine Art Auflösung, was durch die Ferne des trieb- und rauschhaften Elementes vielleicht gerade die Harmonie und das ‘wir’ zu Verwandlungen stimmende Bildlichkeit der zweiten Hälfte des zweiten Teils miterwirkt. Die damit kongruente, hier vorherrschende katabatische Seite der ‘sterbenden Jünglinge’, der Sakral- und Solarkönige, ist weiterhin in ‘trauernde Adler’, einem jenen symbolisch zugeordneten Tier, gespiegelt. Zum Ende des zweiten Teils wird ein - die angesprochene katabatische Tendenz zumindest partiell umkehrender - Bogen zur überwirklich-phantastischen Sphäre des ersten gespannt: ‘ein mondener Strahl’ und ‘Schatten nun im kühlen Schoß der Nacht’ legen dies nahe; es darf dabei an die Nacht als schöpferische Sphäre und die ‘Höhle’ als ‘Schoß’ gedacht werden. Das revitalisierende Element dieses versöhnlichen - was nicht zuletzt von der Naturszenerie bedingt ist - Schlusses geht von ‘mondener Strahl’ aus, der ‘die purpurnen Male der Schwermut’ ‘schließt’; der Bezug zum thanatos-trächtigen ersten Teil bestätigt die Untrennbarkeit von Leben und Tod. Außerdem deuten ‘nächtliche Schatten’, aus denen neben anderem die Identifikations- und Leitfigur ‘Elis’ geformt ist, zusätzlich auf eine Potenz zu Verwandlung und Neubelebung. Dieses konterkariert jedoch der dritte Teil anscheinend total; er verläßt die Sphäre der Natur und ruft mit elegisch-visionärem Duktus „Ihr großen Städte / Steinern aufgebaut / In der Ebene!“ Die Szenerie ist dabei panoramaartig, quasi aus einem Über-Blick vorgeführt. Daraus gleichsam herangezoomt wird nun „Der Heimatlose“, die einzige einzelne, potentiell individuelle Erscheinung im dritten Teil; er gehört zu den Reduktionen des lyrischen Ichs wie ‘Fremdling’ und ‘Aussätziger’, die unter 4.1 besprochen wurden. Durch ‘sprachlos’ und ‘dunkle Stirn’ ist er als der konventionellen Ratio des Stadtdaseins entrückt dargestellt[190]; dies und der Verlust der Natur, die im zweiten Teil mit „Unsrer Heimat“ verbunden war, begründen seine anonyme Titulierung. Er ‘folgt’ ‘dem Wind’ und den ‘Bäumen am Hügel’, die jedoch ‘kahl’ sind. Dies bedeutet, daß es ihn aus den in der ‘Ebene’ liegenden ‘Städten’ hinaustreibt, steht die Ebene doch weiterhin im Gegensatz zu Ausdrücken wie ‘grünende Hügel’ und ‘Weinberg’ aus den ersten beiden Teilen. Mit „Ihr weithin dämmernden Ströme!“ kehrt der Über- und Total-Blick der drei ersten Verse zurück. Wie die ‘kahlen Bäume’ tragen nun auch die unbelebten Elemente der Natur apokalyptische Menetekel, so daß ein anonymes und alldurchdringendes ‘ängstet’ wohlverständlich ist. Das mit der ‘schaurigen Abendröte’ koinzidierende Dämmern der ‘Ströme’ könnte, zumindest auch, als Synästhesie aufgefaßt werden und also ein in der Weite der ‘Ebene’ Verlöschen und Versickern meinen. Aus dem ‘Wind’, dem „Der Heimatlose“ gefolgt ist, ist ein bedrohlicher Sturm geworden. Gerade durch die schroffe, gestaute Rhythmik, die klanglichen Dissonanzen der Verse „Gewaltig ängstet / Schaurige Abendröte / Im Sturmgewölk“ sowie deren durch keine stimmungsmalenden Beschreibungen verwischte Kürze gewinnen sie die monolithische Größe, welche sie als Vorzeichen der Apokalypse stigmatisiert. In den Schlußversen kulminiert und endet in „Bleiche Woge / Zerschellend am Strande der Nacht“ der leitmotivische Strang, den ‘Mond’, ‘weinen’, ‘kristallene Tränen’ bis zur ‘kristallnen Woge’ begründet haben. Diese mit der Todesfarbe versehene, bis zum apokalyptischen Brecher auftürmte Woge, mutiert über das motivische Element hinaus aus den Gefühlen und Gesichten, den Wandlungen, Erscheinungen und Toden von ‘ein Krankes’, ‘Liebenden’ und ‘Elis’ hervor. Hat all dies, intendiert oder nicht, also eine Weltuntergangslawine ins Rollen gebracht, da die ‘bleiche Woge’ neben den ‘fallenden Sternen’ doch unleugbar Bild für die ‘sterbenden Völker’ ist? Man könnte natürlich einwenden, die hier als organisch dargestellte Genese der Leitmotivik lege „Abendland“ auf einen ebenso schematischen wie unangebrachten Kausalismus fest. Wären ergo Untergang und Zerstörung von Städten, das Sterben der Völker: die „Bleiche Woge“ tatsächlich von der leitmotivischen Kette aus ‘weinen’, ‘kristallenen Tränen’, ‘ein Krankes’ und/oder ‘Liebenden’ etc. verursacht? Kann - ohne der Lächerlichkeit der Hybris anheimzufallen - aus einer, wiewohl lyrisch kosmisierten, so doch eher privat-bukolisch-träumerischen Sphäre ein Weltuntergang hergeleitet sein, wenngleich er einen Neubeginn bergen mag? Anstelle einer Antwort sei eine sich aus solchen Überlegungen ebenso ergebende und statthafte Deutungsmöglichkeit skizziert. Die ‘Liebenden’, ‘Elis’ und weiteren Evokatoren dieses Leitmotives brauchen nicht unbedingt als kausale Verursacher dieser Apokalypse herangezogen zu werden. Das vom Thanatos bestimmte unter ‘Nacht’ und ‘Mond’ gedeihende Schicksal von ‘Liebenden’, ‘ein Krankes’ und ‘Elis’ kann auch eine Präfiguration, ein noch früheres Menetekel, ja eine Widerspiegelung der Apokalypse darstellen, die damit ihre Wirkungsmacht bis in jedes Detail erweist. Damit können wir die - diesen Gedicht-Kommentar durchziehende - Omnipräsenz von Thanatos/Apokalypse, allerdings in Verflechtung mit Lebendigkeit und dem sie erzeugenden Eros, als sinnvoll und begründet begreifen. Unter der vorausschattenden Apokalypse ist immer noch respektive erst recht die Verwirklichung von Liebe und Gedeihen der Natur möglich, was den vielfach bei Trakl wahrnehmbaren Keim der Utopie impliziert.[191] Daß die ‘sterbenden Völker’ im Endvers als „Fallende Sterne“ über dem ‘Strande der Nacht’ erscheinen, bringt jedenfalls die Doppeldeutigkeit von Apokalypse und Utopie auf den Punkt. Der Untergang von Städten und Völkern, der auch die Natur versehrt, weitet sich ins Kosmische, wird zum tatsächlichen Weltuntergang. Genauso muß aber auch an Sternschnuppen gedacht werden, ein Glückszeichen oder Fanal des Neubeginns über der ‘zerschellenden Woge’ im schöpferischen Raum der Nacht. Am Ende dieser Erörterung von „Abendland“ drängt sich uns ein Fragenbündel auf. Wegen der ausgeprägten Mehrdeutigkeiten und einigen dennoch eindeutigen Aussagen in diesem Werk ist es - zum Glück wohl überhaupt - unbeantwortbar: Soll/darf/kann/mag/muß man dieses Gedicht in puncto Vermessenheit oder Hellsicht, Selbstüberschätzung oder Prophezeiung, wirklichgewordenen Mythen respektive Archetypen oder psychopathischer Projektionen des Ichs auf die Welt deuten/verurteilen/herausstellen? Da hier nicht der Platz für Wertungen ist, bleibt zumindest die Erkenntnis, daß derartige Deutungs-Deduktionen vielfältig ansprechen können. Solch komplexe Mehrdeutigkeiten in Form eines lyrischen Textes zu erzeugen und zu versammeln, was ihre Verbundenheit, ja Untrennbarkeit sichtbar macht, ist große Kunst und - wenn eine Überzeugung geäußert werden darf - als Grund- und/oder Hauptbedeutung, die ein Text zu erwirken vermag, allein schon der Hervorhebung wert. Unterscheidungen zu fällen oder gar fixierende Einrenkungen zu leisten, war weder Trakls noch unsere Absicht. |
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Fußnoten: [164] Basil:
Trakl, S. 70 |