Wolfram
von Eschenbach
Ca. 1170-1220, Süddeutschland.
Sîne klâwen
durch die wolken sint geslagen,
er stîget ûf mit grôzer kraft,
ich sich in grâwen
tegelîch, als er will tagen,
den tac, der im geselleschaft
erwenden will, dem werden man,
den ich mit sorgen în verliez.
ich bringe in hinnen, ob ich kan.
sîn vil mánigiu tugent mich daz leisten hiez."
Wahtaer, du singest,
daz mir manige freude nimt
und mêret mîne klage.
maer du bringest,
der mich leider niht gezimt,
immer morgens gegen dem tage:
diu sollt du mir verswîgen gar!
daz gebiut ich den triuwen dîn.
des lôn ich dir, als ich getar,
sô belîbet híe dér geselle mîn."
Er muoz et hinnen
balde und ân sûmen sich.
nu gip im urloup, süezez wîp.
lâze in minnen
her nâch sô verholn dich,
daz er behalte êre unde den lîp.
er gap sich mîner triuwe alsô,
daz ich in braehte ouch wider dan.
ez ist nu tac. naht waz ez, dô
mit drücken an die brúst dîn kus mir in an gewan."
Swaz dir gevalle,
wahtaer, sinc und lâ den hie,
der minne brâht und minne enpfienc.
von dînem schalle
ist er und ich erschrocken ie,
sô nínder der môrgenstern ûf gienc
ûf in, der her nâch minne ist kommen,
noch ninder lûhte tages lieht.
du hâst in dicke mir benomen
von blanken armen und ûz herzen niht."
Von den blicken,
die der tac tet durch diu glas,
und dô wahtaere warnen sanc,
si muose erschricken
durch den, der dâ bî ir was.
ir brüstlîn an brust sie dwanc.
der rîter ellens niht vergaz:
des wold in wenden wahtaeres dôn.
urloup nâh und nâher baz
mit kusse und anders gap in minne lôn.
Seine Klauen
hat er durch die Wolken geschlagen,
er steigt auf mit großer Kraft,
ich sehe ihn grauen
taghaft, wie er tagen will,
den Tag, der ihm Zweisamkeit
entwenden will, dem werten Mann,
den ich vorsichtig hineingelassen habe.
Ich bringe ihn von hier fort, wenn ich es vermag.
Seine Vollkommenheit verlangt das von mir."
Wächter, was du singst,
nimmt mir alle Freude
und vermehrt meine Klagen.
Du bringst eine Nachricht,
die mir leider gar nicht behagt,
immer am frühen Morgen.
Die sollst du mir gänzlich verschweigen!
Das befehle ich deiner Loyalität.
Ich werde dich bestens dafür belohnen,
auf daß mein Geliebter hier bleiben darf."
Er muß hinweg
bald und ohne sich zu säumen.
Verabschiede ihn, schöne Frau.
Laß ihn dich weiterhin
so heimlich lieben,
daß er Ansehen und Leben behält.
Er hat sich in meinen Schutz begeben,
daß ich ihn rechtzeitig wieder fortbringe.
Jetzt ist Tag. Nacht war es, als
mit Umarmungen dein Kuß ihn mir abgewonnen hat."
Was immer dir gefällt,
Wächter, singe, aber laß den hier,
der Liebe brachte und Liebe empfing.
Von deinem Schall
sind wir beide schon erschrocken,
obwohl der Morgenstern noch gar nicht aufgegangen war
über ihn, der für die Liebe gekommen ist,
und noch überhaupt kein Tageslicht leuchtete.
Du hast ihn mir oft genommen
aus bloßen Armen, aber nicht aus dem Herzen."
Wegen der Blicke,
die der Tag durch das Fenster tat,
und als der Wächter warnend gesungen hatte,
mußte sie erschrecken
um den, der bei ihr war.
Sie drängte ihre Brüstelein an seine Brust.
Dem Ritter kam da seine Kraft nicht abhanden.
Davon hatte ihn das Lied des Wächters abwenden wollen.
Der Abschied rückte immer näher,
gab ihnen mit Küssen und mehr den Liebeslohn.
[Übersetzung: Wersch]
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